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Interview

Deutscher Publizist Jürgen Kaube: Gespaltene Gesellschaft übertrieben

ARCHIV - 20.01.2022, Berlin: ILLUSTRATION - Auf dem Bildschirm eines Smartphones sieht man die Hashtags Hass und Hetze in einem Twitter-Post. (zu dpa:
Bild: keystone
Interview

Warum das Gerede von der gespaltenen Gesellschaft übertrieben ist

Die Rede von der politischen Polarisierung ist derart präsent, dass sie längst zum Klischee erstarrt ist. Der deutsche Publizist Jürgen Kaube gibt Entwarnung: Unsere Probleme seien gross, doch eine Zerreissprobe sehe anders aus.
31.12.2022, 10:0331.12.2022, 11:16
Hansjörg Friedrich Müller, Berlin / ch media
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Herr Kaube, in Ihrem Buch beschreiben Sie und der Soziologe André Kieserling die «Gespaltene Gesellschaft» eher als Behauptung denn als Realität. Warum ist die Rede davon so populär geworden? Nur aus Denkfaulheit oder steckt doch mehr dahinter?

Jürgen Kaube: Wir identifizieren zwei Quellen dieser Redensart: Einmal Wahlkämpfe, in denen man in Aussicht stellt, dass dem Gemeinwesen Unheil droht, wenn die anderen gewinnen. In Deutschland nutzte der Sozialdemokrat Johannes Rau in den Achtzigerjahren die Formel «Versöhnen statt Spalten»; die Christdemokraten hatten 1976 «Freiheit statt Sozialismus» plakatiert. Dabei wurde das Wirtschaftsministerium dann von dem FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff geführt; der Sozialismus stand also nicht gerade hinter der nächsten Ecke. Unter Donald Trump wurde der Wahlkampf zum Dauerzustand: Er stellte ständig in Aussicht, alles gehe kaputt, wenn die anderen regierten.

Neben Politikern sind es aber auch die Medien, die von inszenierten Konflikten leben.

Sie haben seit jeher die Tendenz, aus der Gesellschaft vor allem die Konflikte herauszuziehen. Das sehen wir auch jetzt, da sich junge Leute an Strassen festkleben, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. Auf einmal wird darüber debattiert, ob das Terroristen sind. Dabei könnte man auch erst einmal abwarten, bis es Hinweise darauf gibt. Aber die Aufmerksamkeit ist maximal, obwohl ich die Letzte Generation gar nicht so radikal finde: Die sagen allen Ernstes, sie würden mit ihren Aktionen aufhören, wenn ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen durchgesetzt sei und ein Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr komme. Ein Kollege von mir meinte, das sei ungefähr so, als werfe man auf der Titanic ein paar Teller über Bord und hoffe, deswegen langsamer zu sinken.

Gaukelt uns das Internet eine Spaltung vor? Auf Twitter ist es immer fünf vor zwölf, und eine Meinung ist im Netz schnell abgesondert.

Jeder kann dort senden, und starke Worte wie «Faschismus», «unglaublich» oder «unfassbar» kommen sehr oft vor. Durch die italienischen und schwedischen Wahlen oder die Existenz Viktor Orbáns glauben manche, der Faschismus kehre zurück. Man muss solche Tendenzen ernst nehmen, aber wenn wir die heutige Zeit mit den Dreissigerjahren vergleichen, sehen wir, dass Giorgia Meloni als Erstes ein Gesetz gegen illegales Raven erlassen hat, während Mussolini am Beginn seiner Amtszeit Parteien verboten, das Parlament aufgelöst und die Pressefreiheit abgeschafft hat.

Warum werden solche historischen Vergleiche gezogen? Weil man selbst gern bei etwas Grossem dabei wäre?

Man fühlt sich schnell in der Lage des Widerstands: Wenn die AfD der Faschismus ist, was einzelnen Aussagen von Mitgliedern dieser Partei durchaus entnommen werden kann, dann bin ich Kurt Tucholsky. Und wenn man twittert, kann man sich solidarisch fühlen. Aber Solidarität meinte früher auch Opferbereitschaft. Twittern ist aber kein Opfer.

Sie meinen, die meisten westlichen Gesellschaften seien von einer Spaltung weit entfernt. Aber gibt es nicht zumindest Tendenzen, die in Richtung einer gespaltenen Gesellschaft deuten? Das heutige Amerika ist sicher sehr viel stärker polarisiert als in den Sechzigerjahren, als sich die grossen Parteien programmatisch kaum unterschieden.

Das würde ich auch so sehen. Aber für mich wäre der springende Punkt erst erreicht, wenn die Unterschiede, die im politischen Kampf betont werden, auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übersprängen: Dass ich mich, wenn Sie ein Sozialdemokrat wären, nicht mit Ihnen an einen Wirtshaustisch setzen würde. Oder dass ich meiner Tochter raten würde, Ihren Sohn nicht zu heiraten. Oder dass ein Fussballklub prinzipiell keine katholischen Spieler aufnimmt.

Der Konflikt müsste also alle Bereiche des Alltags ergreifen. Eine solche Situation sehen Sie in Nordirland, wo sich katholische Republikaner und protestantische Unionisten gegenüberstehen.

Die nordirische Gesellschaft ist eine, in der ich meine Kinder als Protestant auf keinen Fall in die Obhut eines katholischen Lehrers geben würde, selbst dann nicht, wenn es um ein unpolitisches Fach wie Mathematik geht. In Nordirland weiss ich, dass Ihre Leute meine Leute umgebracht haben, wenn Sie ein Protestant sind und ich ein Katholik bin. Das beeinflusst auch das Geschäftsleben: Man denkt nicht mehr darüber nach, ob einer ein professioneller Autohändler ist oder nicht. In erster Linie ist er der Typ, dessen Cousin auf meine Verwandten geschossen hat.

Die Situation während der Coronapandemie scheint mir zumindest einige der Merkmale zu erfüllen, die laut Ihnen für eine Spaltung gegeben sein müssen: Es gab ein grosses, beherrschendes Thema, zu dem sich jeder irgendwie verhalten musste, und wenn es nur darum ging, ob man die Maske trägt oder nicht.

Ja, aber für eine Spaltung reicht es noch nicht aus, wenn ein Unterschied in einem bestimmten Konflikt besteht. Es muss auch auf beiden Seiten homogene Blöcke geben. Tatsächlich haben sich die Leute aber aus sehr unterschiedlichen Gründen impfen lassen oder nicht. Manche Impfskeptiker glaubten, Bill Gates wolle ihnen Mikrochips verabreichen oder die Regierung plane, bestimmte Teile der Bevölkerung auszurotten. Dann gab es Anthroposophen, die ohnehin gegen Impfungen sind. Manche konnten auch die Wahrscheinlichkeit negativer Impffolgen und einer Covid-Erkrankung nicht gegeneinander abwägen. Auch bei denen, die sich impfen liessen, sahen wir unterschiedliche Motivlagen: Einige hatten Angst um ihre Gesundheit, andere wollten ältere Verwandte schützen, manche sagten auch, sie machten, was ihnen ihr Hausarzt sage.

Sehen Sie im Aufkommen der AfD eine Spaltungstendenz? Sie vertritt zwar nur eine Minderheit der Wähler, doch dass sich eine Partei im Bundestag etablieren kann, bei der zumindest nicht ganz klar ist, wie sie zur bestehenden politischen Ordnung steht, ist etwas Neues.

Auch da fehlt ein homogener Block: Diese Leute sind sich ja selbst nicht darüber einig, wie sie zur bestehenden politischen Ordnung stehen. Sie haben die ganze Zeit Streit. Die AfD hat sich mit dem Slogan etabliert, gegen das System zu sein. Nun hat sie das Problem, dass sie immer abwarten muss, wofür sich das System entscheidet und dann dagegen sein muss. Sie ist für Putin, weil die anderen gegen ihn sind. Wenn ich mir die libertären Sprüche anhöre, die aus der AfD kommen – weniger Staat, kein öffentlich-rechtliches Fernsehen – sehe ich kaum Gemeinsamkeiten mit Putin.

Sie meinen, wer ständig dem angeblichen Mainstream widerspricht, lässt sich seine Positionen von anderen diktieren?

Von Georg Christoph Lichtenberg gibt es den schönen Satz, wer immer dagegen sei, imitiere den anderen, nur eben negativ. Und damit handelt sich eine Partei wie die AfD natürlich sehr viel programmatische Inkonsistenzen ein. Ich könnte mich ja fragen, warum ich als Impfgegner auch für Putin sein muss. Putin hat einen Impfstoff entwickeln lassen.

Gibt es eine «schweigende Mehrheit», die eine gesellschaftliche Spaltung unwahrscheinlich macht? Nur die wenigsten Leute bewegen sich auf Plattformen wie Twitter.

Ja, es gibt nicht nur Leute, die Ja oder Nein sagen, sondern auch eine ganze Menge, die sagen, keine Ahnung, das interessiert mich nicht, dazu will ich mich nicht äussern. Oder solche, die den Dissens runterschlucken. Das sehen wir in jeder Familie, und im grösseren Rahmen ist es nicht anders.

Der Spiessbürger, der sich nicht um Politik kümmert, ist für viele Intellektuelle ein Feindbild. Für Sie scheint diese Indifferenz auch etwas Gutes an sich zu haben.

Ja. In vielen Konflikten sind wir überengagiert: Wer weiss schon, welche Waffen an die Ukraine geliefert werden und was die Folgen davon sind? Das ist ebenso ein Thema für Spezialisten wie die Menschenrechtslage in Katar. Der amerikanische Schriftsteller John Updike hat einmal etwas sehr Maliziöses gemacht: Als er gegen den Vietnam-Krieg unterschreiben sollte, fragte er: «Why should I second-guess my president?», warum sollte ich hinterfragen, was mein Präsident sagt?

Man wählt und hofft, damit die Verantwortung abgeben zu können?

Ja, und man fragt sich, wie man sich überhaupt eine Meinung bilden soll. Die meisten Politiker sind auch keine Idioten, die nachts um drei betrunken irgendeine Entscheidung raushauen.

In Ihrem Buch treten Sie als grosser Entwarner auf. Finden Sie damit Aufmerksamkeit?

Das ist tatsächlich ein Problem. Aber was soll ich machen? Ich kann doch nicht schreien, wenn ich keine Schmerzen haben. Manchmal merke ich, dass unser Buch zu dem Fehlschluss Anlass gibt, wir wollten die bestehenden Konflikte herunterspielen. Das ist nicht der Fall, wir haben grosse Probleme, aber sie sind eben nicht von der Art, dass die Gesellschaft deswegen vor einer Zerreissprobe stünde. (aargauerzeitung.ch)

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