Für den 10. September haben verschiedene Gruppen in Frankreich einen Generalstreik ausgerufen. Rund zwei Drittel der Französinnen und Franzosen unterstützen die Aktion. «Bloquons tous», oder auf Deutsch: «Blockieren wir alles» – so lautet auch die Botschaft des Kollektivs Les Essentiels. Einer der Mitgründer ist Julien Marissiaux. Im Gespräch mit CH Media erzählt der 43-Jährige Webdesigner, was das Kollektiv erreichen will, wie er zu den verschiedenen Parteien in Frankreich steht und was das Problem an Demonstrationen ist.
Julien Marissiaux, Sie wollen am 10. September in Frankreich «alles blockieren». Was heisst das konkret?
Entschieden wird erst am Schluss, und meist in lokalen Verbänden. Ein Aufruf geht dahin, nicht mehr mit der Kreditkarte zu zahlen und die Auszahlung des Lohnes in bar zu verlangen. Zudem werden wir nicht arbeiten. Wir nehmen einen Freitag, lassen uns krankschreiben. Die Verwaltung macht dicht, online füllen wir keine Formulare aus. Symbolische Gebäude wie Rathäuser werden besetzt, strategische Orte wie Treibstofflager gesperrt, Flughäfen lahmgelegt.
Befürchten Sie dazu Krawalle wie zur Zeit der «Gelbwesten»?
Nein, Demonstrationen sind nicht vorgesehen. Wir halten solche Aufläufe für nutzlos. Sie enden meist in Gewalt, was es den Herrschenden und den etablierten Medien erlaubt, die Bewegung anzufeinden. So war es jedenfalls bei den Gelbwesten. Uns scheint es effizienter, Benzinlager zu blockieren oder einen Bank-Run mit einem kollektiven Rückzug der Gelder zu provozieren. Das macht mehr Druck.
Also kein Chaos in den Strassen von Paris? Man hat Mühe mit der Vorstellung.
Was wir wollen, geht viel weiter: Wir wollen das neokapitalistische System, das uns zerbricht und bestiehlt, aushebeln. Präsident Emmanuel Macron, ein früherer Investmentbanker, ist eine Marionette der EU und des Kapitals. Er hat für die Bürger nur Verachtung übrig. Aber die ganze Politikerklasse kassiert überrissene Beträge, während wir Vertreter der unteren Klassen den Gürtel enger schnallen sollen, wie Premier François Bayrou sagt.
Seine Regierung könnte unter dem Druck Ihrer Bewegung schon am Montag zu Fall kommen. Erstaunt Sie Ihr Einfluss?
Nein, wir sind zahlreich und stark. Aber die Frage, wen Macron als nächsten Premier ernennt, interessiert uns nicht besonders. Wichtig ist: Das System ist am Ende. Die Demokratie funktioniert nicht mehr, die politischen Parteien repräsentieren nicht einmal mehr zwei Prozent der Bevölkerung. Deshalb versuchen die Parteien und Gewerkschaften auf unsere Bewegung aufzuspringen.
Vor allem die Rechtspopulistin Marine Le Pen und der Linksradikale Jean-Luc Mélenchon. Wem stehen Sie näher?
Niemandem! Wir sind eine hundertprozentige Bürgerbewegung, unabhängig von allen Parteien. Die wollen unsere Bewegung in einen Generalstreik verwandeln, aber wir lassen uns nicht vor den Karren politischer Interessen spannen. Wir sind – übrigens wie schon Charles de Gaulle – misstrauisch gegenüber den Parteien und politischen Organisationen. (aargauerzeitung.ch)