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Militärexperte im Interview: «Für die Ukraine wird es hart, sehr hart»

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François Heisbourg, 73, ist einer der bekanntesten Strategie- und Militärexperten Europas.Bild: EPA ANA-MPA
Interview

Militärexperte im Interview: «Für die Ukraine wird es hart, sehr hart»

François Heisbourg ist einer der einflussreichsten strategischen Denker in Europa. Die Vorbereitungen für die erwartete Grossoffensive würden ihn an den Zweiten Weltkrieg erinnern, sagt er im Interview.
04.06.2023, 14:04
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Herr Heisbourg, beginnt derzeit gerade die angekündigte Offensive der Ukrainer mit dem «Shaping", der Geländevorbereitung durch die Artillerie und anderen Operationen?

Sicher ist: Die Ukrainer verhalten sich so, als wollten sie eine Grossoffensive lancieren. Sabotage von Eisenbahnlinien, Angriffe auf Treibstofflager, Partisanenoperationen wie die in der Region Belgorod - all das bereitet die Offensive vor. Viele dieser Operationen gelangen nie in die Medien.

Worum geht es den Ukrainern?

Sie wollen die Situation zu Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 wiederherstellen oder das russische Festland von der Krim abschneiden. Die Russen verwenden deshalb viel Energie darauf, die Halbinsel mit Raketen, Befestigungen und Panzergräben zu sichern. Auch das kommt mir wie ein Remake der Schlacht Kursk im Jahr 1943 vor. Der Einsatz ist gewaltig.

Zur Person
Heisbourg, 73, ist der bekannteste Strategie- und Militärexperte Frankreichs. Der gebürtige Luxemburger ist Berater des Internationalen Institutes für Strategische Studien (IISS) in London. In Paris leitet er den Rat der Stiftung für strategische Forschung.

Hätte denn ein Erfolg der Offensive Konsequenzen über die Gebietsgewinne hinaus?

Ja, und zwar doppelt. Zum einen wäre Wladimir Putin gezwungen, zu verhandeln. Dabei müsste er sich die Frage stellen, ob er lieber die Krim behalten oder ob er den Beitritt der Ukraine zur Nato verhindern will. Wenn er den Krieg verliert, wird er auf eines dieser Ziele verzichten müssen. Und ich denke, er würde es vorziehen, die Krim zu behalten und dafür die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu akzeptieren. So handelten die Sowjets einschliesslich Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie liessen den Nato-Beitritt Deutschlands zu und akzeptierten die Souveränität Österreichs, um dafür das Gebiet der DDR zu wahren.

Und was passiert, wenn die Offensive misslingt?

Scheitert sie oder findet sie gar nicht statt, wird es für Kiew äusserst schwierig. Russland würde weiter ein Sechstel des ukrainischen Territoriums besetzen und müsste sich nicht an den Verhandlungstisch setzen. Der Westen würde sich fragen, ob er die Ukraine weiterhin aufrüsten soll. Mit Folgen für die Stimmung in den USA, wo im November 2024 Wahlen stattfinden werden.

... bei denen Moskau voll auf Donald Trump setzt.

Ein neuer Sieg Donald Trumps würde in der Ukraine alles ändern. Trump hat keine Sympathien für die Ukraine, und er sieht keine US-Interessen involviert. Deshalb sagte er, er würde das Ukraine-Problem an einem Tag lösen. Das würde auf einen Dirty Deal, ein schmutziges Geschäft mit Putin, hinauslaufen.

Wäre Trump nicht für das Argument empfänglich, dass die USA mit ihrer Unterstützung für die Ukraine auch ein starkes Zeichen ihrer Entschlossenheit Richtung China senden?

So sieht es Joe Biden. Trump hat die Kausalität zwischen der Ukraine und Taiwan dagegen nie angesprochen.

Wie schätzen Sie die Standfestigkeit der Ukrainer ein?

Auch das wird von den Operationen dieses Sommers abhängen. Der Ausgang der ukrainischen Offensive wird für den weiteren Verlauf und den Ausgang des Konfliktes in mehrfacher Hinsicht entscheidend sein. Auf menschlicher und militärischer Ebene wird es für die Ukrainer hart, sehr hart.

In Ihrem letzten Buch über die Lehren eines Krieges schreiben Sie, dass dieser Krieg mit dem Sieg der einen Seite und der Niederlage der anderen Seite enden muss. Ist dazwischen nichts möglich?

Die Ziele der beiden Seiten sind so konträr, dass es nicht anders gehen wird: Es muss einen Sieger geben, der seine Kriegsziele erreicht, und einen Verlierer. Die Ukraine will die territoriale Integrität wiedererlangen, dazu ihre Souveränität und Sicherheit. Das russische Kriegsziel ist imperial und kolonial, will doch Putin schlichtweg die Ukraine absorbieren und zum Verschwinden bringen. Eine Seite muss gewinnen, eine verlieren. Das ist der Unterschied zwischen Krieg und Diplomatie.

Könnte Russland eine Niederlage überhaupt akzeptieren? Sie sagten einmal zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron, eine dauerhafte Friedenslösung bleibe unmöglich, solange Russland an der Idee seines Imperiums festhalte und sich nicht wie Deutschland davon verabschiede.

Deutschland brauchte dazu Jahrzehnte und eine gründliche Arbeit. Russland scheint dazu nicht bereit. Das gilt nicht nur für Putin, sondern die gesamte Bevölkerung, die von der Propaganda manipuliert ist. Russland fiele der Abschied von der imperialen Macht schwerer als den imperialen Mächten des 19. Jahrhunderts. Und auch Frankreich hatte grösste Mühe, wie der Algerienkrieg zeigte. Das Ende eines Imperiums zu akzeptieren, ist sehr kompliziert, sehr schwierig. Deshalb macht sich heute niemand, auch Macron nicht, Illusionen über die Möglichkeit eines schnellen Friedens zwischen der Ukraine und Russland.

Würde China zudem nicht alles unternehmen, um eine russische Niederlage und damit den Triumph der Amerikaner zu verhindern?

Nicht unbedingt. Gewiss, der Sturz des Putinismus und die Einführung der Demokratie in Russland liegen nicht im Interesse Chinas. Aber man darf dabei nicht vergessen: Der chinesische Präsident Xi Jinping hat die Annexion der Krim nicht abgesegnet. Es gibt kein Bündnis zwischen China und Russland, sondern nur eine Partnerschaft. Xi und Putin sprechen von «grenzenloser Freundschaft». Ein Bündnis ist das noch nicht.

FILE - Russian President Vladimir Putin, right, speaks to Chinese President Xi Jinping as they attend an official welcome ceremony at The Grand Kremlin Palace, in Moscow, Russia, March 21, 2023. Chine ...
Der chinesische Präsident Xi Jinping und der russische Präsident Vladimir Putin verbindet eine «grenzenlose Freundschaft.»Bild: keystone

Wie entwickelt sich die öffentliche Meinung in Europa gegenüber dem Krieg in der Ukraine?

New Yorker Medien stellten schon eine Erosion der amerikanischen Unterstützung fest und sprechen von einer «war fatigue», Kriegsmüdigkeit. Laut Meinungsumfragen gibt es aber keinen Umschwung, auch in Europa nicht. Den Leuten ist klar, wer der Aggressor ist und wer angegriffen wurde. Die wirtschaftlichen Folgen sind zudem nicht so schlimm wie befürchtet. Ich sehe die Gefahr nicht so sehr in einer Ermüdung oder Zermürbung, sondern in einer zunehmenden Gleichgültigkeit. Der Krieg scheint immer weiter weg. Das gilt besonders für die USA, wo die bevorstehenden Wahlen höchste Bedeutung für den Kriegsverlauf haben werden.

Sie sagten, Europa müsse sich «engagieren, um zu gewinnen». Was meinen Sie damit konkret?

Abgesehen von der Lieferung von Kampfflugzeugen geht es auch um die Erhöhung der Verteidigungshaushalte. Und dies über den Tag hinaus, an dem in der Ukraine Frieden herrscht. Was wird Russland in zehn Jahren tun, was wird China in zwanzig Jahren tun? Wie wird sich die Türkei verhalten? Heute kehrt die Einsicht zurück, dass Kriege zum Verhaltensspektrum einzelner Staaten gehören. Wir müssen uns damit abfinden: Die Friedenszeit seit dem Kalten Krieg ist vorbei.

Vor allem Deutschland muss nicht nur seine Sicherheits-, sondern auch seine Energiepolitik völlig überdenken. Wie sehen Sie diese Bemühungen aus Pariser Sicht?

Deutschland ringt sich wie alle Länder zur Erkenntnis durch, dass nichts mehr ist wie früher, also vor dem 24. Februar 2022. Hut ab vor Deutschland; dafür, dass es binnen eines Jahres geschafft hat, Gas und Öl nicht mehr aus Russland zu importieren. Ebenso beeindruckend ist die deutsche Debatte zur Chinapolitik inklusive der Frage, welche Zukunft Volkswagen und Mercedes im chinesischen Markt haben. Da habe ich Vertrauen, dass die Deutschen richtig entscheiden werden. Was ich jedoch nicht verstehe, ist die deutsche Blockade in der Frage der Kernenergie. Da verstrickt sich Deutschland in einen völligen Widerspruch zum Wunsch, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.

Ist die Neutralität von westlichen Ländern wie Österreich oder der Schweiz in der Ukraine-Frage noch angebracht?

Im Fall der Schweiz ist die Neutralität ein Thema, das mit der nationalen Identität verbunden ist. Ich glaube, die Eidgenossenschaft ist das einzige Land, in dem das wirklich der Fall ist. Ich weiss das, weil ich in den 1990er-Jahren an den Arbeiten der Ad-hoc-Kommission von Edouard Brunner über die Zukunft der Schweizer Neutralität nach dem Kalten Krieg teilgenommen habe. Ich hatte die Gelegenheit, mit unseren helvetischen Freunden an diesem Thema zu arbeiten, und ich weiss, wie heikel es ist. Ich respektiere seine Grenzen. Die Schweiz hat sich dafür entschieden, ihre Neutralität an die neuen Umstände anzupassen. Das funktionierte im Kosovokrieg mit der Überfluggenehmigung für Flugzeuge der westlichen Koalition und den entsandten Grenztruppen. Heute ist die Schweiz aber sogar zurückhaltend, wenn es darum geht, anderen Ländern eine Genehmigung zu erteilen, Schweizer Waffen in die Ukraine zu liefern. Ich habe mehr Verständnis für die Schweiz als viele meiner deutschen Kollegen, die eher die österreichische Neutralität besser verstehen.

Die Schockwellen des Krieges in der Ukraine gehen weit über den Osten der Ukraine und sogar über Europa hinaus. Die Dominanz des «Westens» wird zunehmend infrage gestellt. Sehen wir die Anfänge einer neuen Weltordnung?

Der Wandel ist unbestreitbar. Wobei in der UNO immer noch eine klare Mehrheit der Länder für die Ukraine eintritt. Wichtige Länder wie Brasilien, Vietnam oder die Türkei verfolgen zwar ihre Interessen, aber sie lehnen den Westen nicht grundsätzlich ab. Grosse Probleme gibt es in Afrika, denn dort herrscht ein Narrativ der Kolonialisierung und des westlichen Imperialismus. Europäer und Amerikaner haben einen grossen Fehler begangen, als sie Afrika den diplomatischen und militärischen Aktivitäten Russlands überlassen haben.

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100 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Magnum
04.06.2023 15:27registriert Februar 2015
Ich könnte mich ja irren, aber ich bin der Meinung, dass der Alltag für die Menschen in der Ukraine schon seit dem 24. Februar sehr hart ist. Also seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf ihr Land.
Die russischen Invasionstruppen stehen seit 466 Tagen in der Ukraine. Wenn die bis dato erbrachten Opfer einen Sinn machen sollen, dann kann und darf es kein Nachgeben gegenüber dem Aggressor geben. Russland muss auf die Kappe bekommen, zwingend.
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Swen Goldpreis
04.06.2023 14:45registriert April 2019
"Grosse Probleme gibt es in Afrika, denn dort herrscht ein Narrativ der Kolonialisierung und des westlichen Imperialismus."

Es ist nicht ohne Ironie, dass es genau diese Kolonialismus-Erfahrung ist, die viele Länder des globalen Südens in die Arme der neuen Kolonialmacht treiben. Denn nichts anderes als das ist China.

Wobei vermutlich auch ein ziemliches Quäntchen Korruption eine Rolle spielt, dessen Klaviatur China eben auch sehr viel besser beherrscht als wir.

Europa sollte sich in Afrika sehr viel stärker engagieren und ehrliche und gute Angebot zur Zusammenarbeit machen.
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bitzliz'alt
04.06.2023 14:22registriert Dezember 2020
...überzeugende Aussagen! Und speziell der letztec Absatz, der aussagt, dass Europa und USA quasi ganz Afrika Russland (und China) überlassen haben, das wird sich langfristig rächen!
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