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«Jedes Jahr verlassen tausende Frauen Polen, um anderswo abzutreiben»

Ultraschall Fötus foetus
Viele Frauen auf der Welt sind starr vor Angst, wenn sie erfahren, dass sie ungewollt schwanger wurden.Bild: Shutterstock
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«Jedes Jahr verlassen tausende Frauen Polen, um anderswo abzutreiben»

03.01.2024, 23:1904.01.2024, 06:44
Julia Dombrowsky / watson.de
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Nicht alle Schwangeren sind «guter Hoffnung». Im Gegenteil. Viele Frauen auf der Welt sind eher starr vor Angst, wenn sie erfahren, dass sie ungewollt schwanger wurden. Denn in den meisten Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche illegal oder nur im Ausnahmefall möglich.

Die Gesetze dazu lockern sich weltweit zwar, einzelne Länder haben die Restriktionen in den vergangenen Jahren jedoch extrem verschärft – darunter Polen und die USA.

In den USA begann die Verschärfung 2022 mit dem Urteil des Supreme Court, dass Schwangerschaftsabbrüche Bundesstaatssache seien. Dadurch entstand ein Flickenteppich der Gesetze; US-Amerikanerinnen sind zuweilen gezwungen, ihren Bundesstaat in einer medizinischen Notlage zu verlassen, um Abtreibungen vorzunehmen. Vielerorts ziehen Amerikanerinnen seitdem in Sammelklagen vor Gericht, zum Beispiel in Texas und Idaho.

Polen ist derzeit besonders im Fokus

In Polen birgt das Thema besonders viel Sprengkraft. Denn seit die konservative PiS-Regierung am 13. Dezember durch das liberalere Tusk-Kabinett abgelöst wurde, hoffen viele Menschen im Land darauf, dass Schwangerschaftsabbrüche wieder entkriminalisiert werden.

People protest in solidarity with Polish women after a top court ruled to further tighten the strict Polish abortion law, in Bern, Switzerland, on Saturday, November 7, 2020. (Anthony Anex/Keystone vi ...
Menschen protestieren in Solidarität mit polnischen Frauen, nachdem ein oberstes Gericht entschieden hat, das strenge polnische Abtreibungsgesetz weiter zu verschärfen, in Bern, Schweiz, am Samstag, 7. November 2020.Bild: keystone

Zum Hintergrund: Seit einer Verschärfung des Abtreibungsgesetzes 2020 wurden in Polen Menschen angezeigt, die Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen halfen; sogar gegen Frauen, die natürliche Fehlgeburten erlitten, wurde ermittelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war mehrfach eingeschritten und hatte Polen wegen Verletzungen des Rechts auf Privat- und Familienleben verurteilt.

Zuletzt, am 14. Dezember, hatte das Gericht in Strassburg sogar verkündet, dass Polens rigides Abtreibungsgesetz von 2020 nicht rechtmässig sei, da das Verfassungstribunal nicht unabhängig von Exekutive und Legislative aufgestellt wurde.

«Das einzige Land, das den Schwangerschaftsabbruch vollständig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen hat, ist Kanada.»

Dieses Urteil könnt relevant werden, wenn es darum geht, das Gesetz wieder rückgängig zu machen. Das kündigte der neue Ministerpräsident zwar in einer Rede an, dämpfte aber zugleich Erwartungen – es gäbe doch sehr unterschiedliche Auffassungen in der Koalition über angemessene Lockerungen.

Katharina Masoud ist Expertin für Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International in Deutschland. Wir sprachen mit ihr über Schwangerschaftsabbrüche und gefährliche Restriktionen.

Katharina Masoud.
Katharina Masoud.Bild: screenshot X

watson: Wo sind Schwangerschaftsabbrüche illegal?
Katharina Masoud:
In den meisten Ländern wird der Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich geahndet, in 22 Ländern ist er sogar ganz verboten. Das einzige Land, das den Schwangerschaftsabbruch vollständig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen hat, ist Kanada. In den vergangenen 30 Jahren haben mehr als 60 Länder ihre Abtreibungsgesetze liberalisiert. Im gleichen Zeitraum haben nur vier Länder neue Beschränkungen eingeführt – Polen, USA, Nicaragua und El Salvador.

Global betrachtet werden die Gesetze liberaler?
Einige Länder haben den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erweitert und andere Abtreibungsverbote aufgehoben. Aber selbst dort, wo es progressive Gesetzesreformen gab, kann der Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch schwierig sein. In den meisten Ländern ist der Schwangerschaftsabbruch nach wie vor kriminalisiert oder stark reglementiert, wobei wenige Ausnahmen vorgesehen sind.

«Wenn Schwangere gezwungen werden, Kinder gegen ihren Willen zu bekommen, kann das schwerwiegende Folgen für die mentale Gesundheit haben.»

Was bedeutet das für Frauen in diesen Ländern?
Das hat erhebliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Schwangeren. Gleichzeitig bedeutet es nicht, dass es zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen kommt, sondern nur, dass diese weniger sicher durchgeführt werden. Wenn sie es sich leisten können, fahren Menschen, die schwanger werden können, in benachbarte Bundesstaaten oder Länder, in denen der Abbruch legal vorgenommen werden kann.

Und wenn die Schwangeren kein Geld dafür haben?
Wenn diese Möglichkeit nicht besteht, greifen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu unsicheren Methoden, was auch die Rate der Müttersterblichkeit anheben kann. Das betrifft zumeist marginalisierte Menschen aus dem ländlichen Raum sowie Menschen, die in Armut leben, und verschärft bestehende Ungleichheiten.

Was, wenn ungewollte Kinder geboren werden?
Wenn Schwangere gezwungen werden, Kinder gegen ihren Willen zu bekommen, kann das schwerwiegende Folgen für die mentale Gesundheit haben. Sind die Schwangerschaften durch Vergewaltigung entstanden, kann die Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruches sogar Folter darstellen.

Welches Problem sehen Sie noch?
Eine weitere Gefahr bei einer strikten Gesetzgebung ist, dass schwangerschaftsbezogene Komplikationen, die zu einer Fehl- oder Totgeburt führen, für einen Schwangerschaftsabbruch gehalten werden und zur Strafverfolgung führen können. Um der Strafverfolgung zu entgehen, werden notwendige medizinische Dienste häufig entweder gar nicht erst aufgesucht.

«Jedes Jahr verlassen tausende Frauen Polen, um in anderen europäischen Ländern eine Abtreibungsbehandlung in Anspruch zu nehmen.»

Polen ist in Bezug auf Abtreibungen besonders streng. Warum?
Polen hat eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa. In Polen ist ein Schwangerschaftsabbruch nur dann erlaubt, wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist oder wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung oder Inzest resultiert. In der Praxis ist es jedoch auch für diejenigen, die Anspruch auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch haben, fast unmöglich, einen zu erhalten.

From left, members of the organization Abortion Dream Team Kinga Jelinska, Justyna Wydrzynska and Natalia Broniarczyk speak during a media conference in Brussels, Thursday, March 23, 2023. Justyna Wyd ...
Justyna Wydrzyńska (Mitte) wurde im März 2023 in Warschau verurteilt, weil sie einem Opfer häuslicher Gewalt eine Abtreibungspille gab.Bild: keystone

Mit dem Ergebnis?
Jedes Jahr verlassen tausende Frauen Polen, um in anderen europäischen Ländern eine Abtreibungsbehandlung in Anspruch zu nehmen, andere führen medizinische Abtreibungspillen ein oder lassen in Polen einen Schwangerschaftsabbruch ausserhalb des gesetzlichen Rahmens vornehmen. Polnische Frauen, insbesondere solche in schwierigen sozioökonomischen Situationen, sind auf die Hilfe von Organisationen der Zivilgesellschaft angewiesen.

Wann verschärfte sich die Gesetzgebung derart?
Am 22. Oktober 2020 sprach das polnische Verfassungsgericht ein folgenschweres Urteil: Das Gericht entschied, dass es verfassungswidrig sei, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen aufgrund eines «schweren und irreversiblen fötalen Defekts oder einer unheilbaren Krankheit, die das Leben des Fötus bedroht». Das Urteil trat am 27. Januar 2021 in Kraft.

Wie angespannt ist die Stimmung seitdem?
Die Behörden gehen gegen Familienmitglieder, Freund:innen, Begleitpersonen und Gesundheitsdienstleister:innen vor, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen oder dabei helfen. Dies hat bereits zu Verurteilungen geführt. Darüber hinaus haben polnische Menschenrechtsorganisationen Bomben- und Todesdrohungen gegen Organisationen und Institutionen dokumentiert, die sich für sexuelle und reproduktive Rechte einsetzen. In Polen finden seit Jahren Proteste gegen die zunehmenden Einschränkungen von Schwangerschaftsabbrüchen statt. Diese Proteste werden oft repressiv beantwortet.

Kriminalisiert werden vor allem die Helfer:innen?
Auch wenn das Gesetz in Polen nicht die Personen unter Strafe stellt, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, sondern diejenigen, die sie ausserhalb der begrenzten rechtlichen Möglichkeiten durchführen oder anderen dabei helfen, sind alle davon betroffen.

Ein Beispiel?
Zum Beispiel starb eine 33-jährige Frau, die sich im Mai 2023 mit Schwangerschaftskomplikationen in ein Krankenhaus begab, wo ihr die Behandlung verweigert wurde. Weil das Krankenhauspersonal das potenzielle Leben ihres Fötus' über die Gesundheit und das Leben der Frau stellte. Sie ist eine von mindestens sechs Frauen, die seit Januar 2021 unter ähnlichen Umständen gestorben sind.

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9 Kommentare
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Lordkanzler-von-Kensington
04.01.2024 00:03registriert September 2020
Ich kann mich (leider) noch gut an den Fall der 33jährigen Frau, die im Artikel erwähnt wird, erinnern. Ich war schockiert über den ganzen Vorgang & Verlauf, der mit ihrem Tod endete.
Du bist schwanger und begibst Dich aufgrund von Sorge & Komplikationen in ein Krankenhaus. Du denkst an Hilfe. Und dann wird es alles verweigert, aus Ängsten vorm Arm des Gesetzgebers, aus mehr als fragwürdigen Überzeugungen. Ihr Leidensweg bis hin zum Tod...nichts davon wäre "nötig" gewesen.
Mitten in Europa, mitten unter uns! So darf Medizin nicht sein. Das Krankenhaus darf kein Ort der Gefahr für Frauen sein!
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