Ecuador liegt zwischen Kolumbien und Peru – den beiden weltweit grössten Kokainproduzenten. Lange galt das Land in der konfliktreichen Region als «Insel des Friedens». Doch inzwischen versinkt der Andenstaat in einer Spirale der Gewalt.
Die Hintergründe sind komplex – doch alles dreht sich um Kokain.
Das südamerikanische Land hat sich in den letzten Jahren zu einem Umschlagplatz für den globalen Drogenhandel entwickelt und befindet sich nun im Würgegriff der Kartelle.
Von Sinaloa bis zur albanischen Mafia – die mächtigsten Kartelle mischen in Ecuador mit. «Wir haben es nicht länger mit gewöhnlichen Straftätern zu tun, sondern mit den grössten Drogenkartellen der ganzen Welt», sagte der ecuadorianische Präsident Guillermo Lasso letztes Jahr.
Der Andenstaat mit seinen 18 Millionen Einwohner:innen, der einst noch die niedrigste Mordrate Lateinamerikas aufwies, beklagt heute zwischen 10 und 20 Morde pro Tag.
Zwischen den rivalisierenden Banden herrscht ein Kampf um Macht und Geld, der mitten auf der Strasse ausgetragen wird. Immer wieder kommt es zu öffentlichen Schiessereien, Entführungen, Diebstählen und Gewaltverbrechen. Überfüllte Gefängnisse sind zur Brutstätte für Kriminalität geworden. Rivalitäten finden hinter Gittern statt, häufig kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Inmitten der Bandengewalt fanden Präsidentschaftswahlen statt. Der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio sagte dem Drogenhandel den Kampf an – und wurde auf offener Strasse erschossen.
Wie steht es um die Sicherheit des Landes zwei Monate nach dem Attentat? Und welche Hoffnung setzen die Einwohner:innen auf den neu gewählten Präsidenten Daniel Noboa, Sohn des reichsten Mannes des Landes? Ein Gespräch mit dem einheimischen Journalisten Geovanny Espinosa.
Ecuador befindet sich in einem Alarmzustand. Wie kann man sich das vorstellen? Welche Einschränkungen gibt es?
Geovanny Espinosa: Die Kriminalität hat in den letzten drei Jahren alarmierend zugenommen. Dies hat dazu geführt, dass Ecuador nicht mehr die «Insel des Friedens» ist, die sie einmal war. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass kriminelle Gruppen, die mit dem Drogenhandel in Verbindung stehen, nach Ecuador gekommen sind und Gewaltverbrechen begangen haben, die es in diesem Land noch nie gegeben hat.
Trauen sich die Menschen noch, ihre Häuser zu verlassen?
In den meisten Städten gehen die Menschen noch ihren gewohnten Beschäftigungen nach, aber viele Geschäfte sind aus Angst vor Kriminalität geschlossen worden. Auch Nachtclubs und Bars schliessen wegen des Rückgangs der Kundschaft und wegen der Kriminalität.
In der Nacht sind die Strassen also nahezu ausgestorben?
Die Menschen versuchen, so wenig wie möglich auszugehen und gefährliche Orte oder Gegenden in der Nacht zu meiden. Angesichts der Verbrechenswelle sind die Menschen aufmerksamer geworden. So sieht man beispielsweise keine Menschen, die auf der Strasse mit dem Smartphone herumlaufen.
Ist man in den eigenen vier Wänden überhaupt noch sicher?
Zu Hause ist man am sichersten, dort kann man sich am besten schützen. Gewaltsame Todesfälle ereignen sich im Normalfall nicht in irgendwelchen Familien, sondern in solchen, die in irgendeiner Weise in den Drogenhandel involviert sind. Doch auch die allgemeine Kriminalität, wie Haus- und Autodiebstähle, hat zugenommen – vor allem in ärmeren Vierteln.
Wie sieht Ihr Alltag im Moment aus? Können Sie uneingeschränkt arbeiten?
Ich bin Kommunikator und Journalist und gehe meiner Arbeit ganz normal nach. Ich bin aber aufmerksamer geworden, wenn ich auf die Strasse gehe oder in einen Bus steige.
Es wurde darüber diskutiert, ob der Besitz von zivilen Waffen beim Verlassen des Hauses erlaubt werden soll.
Die Regierung hat sich mit einem Gesetz befasst, das den Bürgern das Tragen von Waffen erlauben würde, aber im Moment ist dies nicht der Fall. Es ist Aufgabe des neuen Präsidenten, Gesetze auszuarbeiten, die dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Bekämpfung der Kriminalität dienen.
Stimmt es, dass die Banden jetzt das Land kontrollieren und nicht mehr die Regierung?
Die kriminellen Banden haben die Strassen übernommen, vor allem wegen der mittelmässigen und schlecht finanzierten Verwaltung des Strafvollzugs und der zögerlichen Vorgehensweise der Polizei. Das heisst, es gibt keine öffentliche Politik seitens der Regierung, um die Kriminalität wirksam zu bekämpfen.
Wo ist die Situation am schlimmsten?
Die gefährlichsten Gebiete sind die Küstenprovinzen, vor allem Esmeraldas, Guayas und Manabí. In Quito, der Hauptstadt des Landes, ist die Lage weniger besorgniserregend, aber da es sich um eine grosse Stadt handelt, haben auch da die Kriminalität und Gewalt zugenommen.
Wo finden die Rivalitäten zwischen kriminellen Gruppen statt? Mitten auf der Strasse? Mitten am Tag?
Auf der Strasse, in den Gefängnissen, zu jeder Zeit.
Bilder zeigen zerstückelte Leichenteile, die auf der Strasse liegen, wo Kinder spielen.
Ja, das Ausmass der Gewalt ist gewaltig. Kriminelle sind bereit, Menschen für ein Handy zu töten.
Haben Sie oder Ihr Umfeld schon einmal gefährliche Situationen erlebt?
Es kam zu kleineren, gewaltfreien Raubüberfällen.
Wie steht es um das Vertrauen in die Polizei und die Justiz?
Das Justizsystem ist am Boden, die Menschen haben kein Vertrauen in die Justizbehörden, weil es immer wieder Fälle von Bestechung gibt. Die Richter greifen nicht durch und das Justizsystem ist ineffizient. Die Polizei ist in der Anwendung von Gewalt und Waffen eingeschränkt und es herrscht Korruption innerhalb der Institution. Somit haben die Menschen auch das Vertrauen in die Polizei verloren.
Können die Medien unabhängig berichten?
Es gibt ein gutes Informationsniveau, obwohl die Regierung und ihre Institutionen nur wenige Informationen zur Verfügung stellen. Die digitalen Newsfeeds spielen dabei eine grosse Rolle.
Sind so nicht auch viele Fakenews im Umlauf?
Es kursieren viele Fakenews, vor allem während des letzten Wahlkampfs. Dabei wurde versucht, mit Fotos, Autos und Videos, die durch künstliche Intelligenz erstellt wurden, Politiker zu diskreditieren. Gefälschte Beiträge zu Gewalttaten der kriminellen Banden gibt es nur selten.
Wovor fürchten sich die Menschen am meisten?
Die Menschen haben Angst, dass die Regierung die Situation nicht mehr in den Griff bekommt und kriminelle Gruppen die totale Kontrolle über das Land übernehmen werden. Das ist die grösste Herausforderung für den neuen Präsidenten, Daniel Noboa.
Was denken Sie über den neuen Präsidenten? Glauben Sie, dass er in der Lage sein wird, die Probleme in den Griff zu bekommen?
Es ist schwierig, die totale Kontrolle wiederzuerlangen, aber Daniel Noboa muss dringend eine Strategie und einen Sicherheitsplan umsetzen, die es ermöglichen, die Kriminalität zurückzudrängen und den Drogenhandel zu zerschlagen.