ETH-Experte: «Diese Tat wird der Ukraine eine weitere Warnung sein»
Herr Berni, gestern wurde ein Privatjet, in dem sich Jewgeni Prigoschin befand, mutmasslich abgeschossen oder explodierte. Hat Sie diese Nachricht überrascht?
Marcel Berni: Nein, mit der Ermordung von Prigoschin war nach der abgebrochenen Meuterei vor zwei Monaten zu rechnen. Er hatte den Kreml und die oberste Militärführung offen in Frage gestellt, sich und seine Söldner überschätzt und wurde damit zur Gefahr für das loyale Establishment, das Putin höher gewichtet als seinen erfolgreichsten Söldnerführer.
Prigoschin starb genau zwei Monate nach seinem Putschversuch. Damals kam es wohl zu einem Deal zwischen Putin und Prigoschin. Hatten Sie es für glaubwürdig gehalten, dass Putin sich nicht rächen würde für Prigoschins Verrat?
Dieser Deal war von Anfang an faul und es stellte sich schon damals die Frage, weshalb Prigoschin darauf eingestiegen war. Die Rede Putins während der Meuterei vor zwei Monaten war ungewohnt scharf und hätte für Prigoschin Warnung genug sein sollen. Im Nachhinein war damit sein Schicksal besiegelt. Ich bin aber schon etwas überrascht, wie demonstrativ und öffentlich das Regime nun zurückgeschlagen hat.
Der russische Fernsehsender Zargrad gab aber dem ukrainischen Militärgeheimdienst die Schuld am Absturz des Flugzeugs. Für wie plausibel halten Sie diese Behauptung?
Natürlich hat auch die Ukraine ein Interesse an der Beseitigung Prigoschins. Diese Behauptung halte ich allerdings für einen Akt der plausiblen Abstreitbarkeit. Viel eher ist der Abschuss oder die Bombardierung eines Privatjets eine unmissverständliche Botschaft an die russische Elite, dass niemand vor der Staatsgewalt sicher ist. Ein solches Klima der Angst nützt den Loyalisten. Auch die von Prigoschin gepriesenen Generäle sind entsprechend in Ungnade gefallen.
Ist demnach davon auszugehen, dass Putin verantwortlich ist für den Abschuss des Flugzeugs?
Wir wissen noch wenig zum tatsächlichen Absturz. Ich glaube aber nicht an Zufälle. Der Krieg hat seinen Emporkömmling gefressen.
Welches Signal sendet Putin mit dem Abschuss aus, falls er es denn war?
Die Eliminierung Prigoschins passt in das russische Drehbuch. Verräter und Kritiker werden über kurz oder lang aus dem Weg geräumt.
Die russische Bevölkerung mochte Prigoschin. Könnte es zu Aufständen kommen?
Ich glaube eher, dass die russische Bevölkerung damit noch stärker eingeschüchtert wird.
Auch unter russischen Militärbloggern war Prigoschin ziemlich beliebt. Wird sich jetzt die Stimmung gegen Putin wenden?
Prigoschin war beliebt, weil er Dinge aussprach, die sich nur wenige trauten. Zudem machten seine Wager-Truppen im Winter und Frühling die bedeutendsten militärischen Fortschritte in der Ukraine. Die Tatsache, dass ein solcher krimineller und menschenverachtender Kriegsprofiteur bei vielen Russen gut ankam, muss uns zu denken geben. Die drängendere Frage im Moment ist aber, wie sich die Wagner-Truppe ohne ihre Galionsfigur verhält.
Diese Söldner sind nun führungslos. Wie formiert sich eine Gruppe von rund 30’000 bis 40’000 Mann neu?
Wahrscheinlich wird sie getreu dem Kalkül des Kremls nun weiter aufgesplittet. Ein Teil wird in die russische Armee integriert, andere Söldner werden in Afrika stationiert und wieder andere verbleiben in Belarus. Die Frage ist natürlich, ob sich dies die zweite Führungsetage der Privatarmee gefallen lassen wird.
Noch zum Stand des ukrainischen Militärs: Kann dieses von den Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Truppen profitieren?
Der Mord an Prigoschin, sollte er sich denn bestätigen, dürfte nur einen marginalen Einfluss auf den Krieg haben. Nach der blutigen Einnahme von Bachmut wurden die Söldner Schritt für Schritt aus der Ukraine abgezogen. Vielmehr illustriert diese Tat die Doppelzüngigkeit des Kremls und wird der Ukraine eine weitere Warnung bezüglich Verhandlungen sein.
