Ukraine-Unterstützer gibt es in diesen Tagen viele. Besonders in Europa und in den USA. Doch Denis Zakharov wohnt nicht in Berlin oder Washington, sondern in Moskau.
Obschon seine Regierung immer wieder rigoros mit Kritikern umgeht, lässt sich Denis nicht den Mund verbieten. Er geht auf Demonstrationen und versorgt seine Twitter-Follower mit Neuigkeiten aus Russland.
Wir erreichen ihn via Zoom. Er sitzt in seiner Moskauer Wohnung, in seiner Hand hält er eine Zigarette, der Rauch schlängelt sich um das ungeordnete Haar. Seine Fingernägel sind gelb-blau angemalt – die Farben der ukrainischen Flagge.
Denis, wie ist das Leben in Moskau?
Überraschend normal. Es ist gar nicht so apokalyptisch, wie das einige vermuten würden.
Spürt man die negativen Konsequenzen des Krieges nicht?
Ich schon. Ich verfolge die Berichterstattung und arbeite im Marketing-Bereich, der stark betroffen ist. Wir hatten viele internationale Kunden, die jetzt alle weg sind. Aber die meisten Leute leben einfach ihr Leben und ignorieren den Krieg weitestgehend.
Hast du Familienmitglieder, die im Krieg sind?
Nein. Meine Mutter und ihr Mann sind in Zypern. Ihnen geht es gut. Mein Vater ist hier in Russland. Aber wir haben keine gute Beziehung, da er ein Kriegsunterstützer ist. Manchmal ruft er mich an und fragt, ob ich vom FBI bezahlt werde.
Wirst du das?
Ich wünschte. Denn ich bin ziemlich pleite. (lacht)
Kennst du Leute, die an der Front sind?
Ja. Ich versuche, sie zu überreden, dass sie sich in ukrainische Gefangenschaft begeben. Und dann kenne ich auch solche, die wieder zurück sind. Doch das Gespräch mit ihnen ist schwierig: Sie glauben an die Fake-News. Sie sind wie Zombies.
Du hast eine ganz andere Sicht auf den Krieg und unterstützt als Russe die Ukraine. Wie kommt das?
Das liegt in erster Linie an der Sprache. Ich spreche Englisch und kann deswegen westliche Medien lesen. Meine Freunde in Moskau konsumieren meistens nur russische Propaganda. Und diejenigen, die eine ähnliche Sicht auf den Krieg haben wie ich, haben das Land mittlerweile verlassen.
Wieso bist du immer noch in Russland?
Ich glaube, es ist nicht gut, wenn Russen fliehen. Zu Beginn des Krieges war ich an Demonstrationen mit vielen Leuten. Die Teilnehmer wurden immer weniger, weil viele Menschen das Land verliessen. Doch genau jetzt wäre es am Wichtigsten, seine Stimme zu erheben.
Wurdest du schon verhaftet?
Ja, drei oder vier Mal.
Wie war das?
Das letzte Mal war im September. Damals war ich mit einem schwulen 20-Jährigen auf der Polizeistation, der zum ersten Mal an einer Demonstration war. Er weinte und dachte, dass er jetzt ins Gefängnis müsse. Ich konnte ihn jedoch beruhigen und sagte, dass er wieder freikomme. Das war der Moment, als ich merkte, dass ich diesen Menschen gegenüber eine Verantwortung trage. Ich kann sie nicht alleine lassen. Denn Anwälte haben sie auf der Polizeistation keine und die Polizei spricht auch nicht mit ihnen.
Wie lange hielten sie dich fest?
Sieben Tage.
Gehst du noch an Demonstrationen gegen Putin?
Im Moment gibt es keine. Wenn es wieder gibt, gehe ich da zu 100 Prozent hin. Aktuell versuche ich mit meiner Twitter-Reichweite Geld für die Ukraine zu sammeln.
Wieso bist du nicht in der Armee?
Ich bin doch nicht blöd! (lacht)
Vielleicht wirst du ja bald eingezogen.
Dann gehe ich lieber ins Gefängnis als in den Krieg.
Wieso hat das Regime dich nicht schon längst ins Gefängnis gesteckt? Du hältst ja mit deiner Kritik überhaupt nicht zurück.
Das frage ich mich auch. Vielleicht verstehen die Leute dort kein Englisch. Und ich twittere ja meistens auf Englisch.
Sometimes I get paranoid. This van is parked under my windows for three days, with some men in khaki pants staying next to it at night. It drives me mad, even though I understand I am not someone important enough for a V-class Mercedes and such a following. pic.twitter.com/oyf2mCnLVB
— Denis Zakharov (@betelgeuse1922) January 5, 2023
Kürzlich hast du geschrieben, die Waffengewalt in Russland habe stark zugenommen. Gibt es dazu Zahlen?
Ja, offizielle Statistiken des Innenministeriums. Diese besagen, dass die Waffengewalt seit Kriegsausbruch um 30 Prozent zugenommen hat.
Kannst du dir das erklären?
An der Front werden viele Waffen verteilt. Ein Überblick hat niemand. Viele Soldaten verkaufen die Waffen auf dem Schwarzmarkt in der Heimat. Der Effekt ist verheerend: Wir hatten viele Kriminelle bereits vor dem Krieg. Jetzt haben sie auch noch einen einfachen Zugang zu Waffen. Alleine in Moskau ist die Waffengewalt seit Kriegsausbruch um 200 Prozent angestiegen. In der Grenzregion Kursk beträgt der Anstieg sogar über 600 Prozent.
Wird die Waffengewalt in Russland weiter zunehmen?
Mit Sicherheit. Viele russische Experten dachten, sie würde zunehmen, wenn die mobilisierten Soldaten zurückkommen. Doch es ist bereits jetzt so weit. Ich will gar nicht wissen, wie die Statistik Ende 2023 aussehen wird.
Was macht das mit der russischen Gesellschaft?
In russischen Wohnblocks gibt es einen öffentlichen Bereich. Dort stinkt es immer und es liegt Abfall rum. Sobald man jedoch die Tür zur Wohnung öffnet, wird es schön und gemütlich. Jeder kümmert sich nur um seine eigene kleine Welt. Der Krieg wird dazu führen, dass wir uns noch mehr zurückziehen und noch mehr ignorieren werden, was vor unserer Haustür passiert.
Demnach fehlt ein Gemeinschaftsgefühl.
Wir haben keine Ideologie, die uns vereint. Ganz im Gegensatz zu den Ukrainern.
Keine guten Aussichten für Russland.
Ich denke, der Krieg wird 2023 zu Ende gehen. Die traumatisierten und verbitterten Soldaten werden in ihre Dörfer zurückkehren und weiterhin mit ihren Kollegen aus der Armee verkehren. Jeder wird wissen, wie er zu Waffen kommt. Morde und Diebstähle werden massiv zunehmen. Es werden sich Clans bilden, die sich gegenseitig bekämpfen. Das wird kein lustiges Jahr für Russland. Aber wir haben es verdient. Das passiert eben, wenn man denkt, man könne ein anderes Land erobern, Zivilisten töten und Frauen vergewaltigen.
Spannende Theorie. Aber denkst du nicht, dass Wladimir Putin das unterbinden wird?
Putin? Der hat doch schon längst die Kontrolle verloren.
Wie meinst du das?
Magst du dich erinnern, was er für Weihnachten angeordnet hat?
Eine Waffenruhe für 36 Stunden.
Und haben die Russen sie eingehalten?
Nein.
Eben.
Das kann verschiedene Ursachen haben.
Putins Macht schwindet auf allen Ebenen. So hat er etwa das Gewaltmonopol verloren. An der Front kämpfen nicht mehr nur Soldaten der russischen Armee, sondern verschiedene Gruppen wie Wagner. Diese haben ihre eigenen Kommandos und ihre eigenen Waffen. Im Inland hat er theoretisch die Kontrolle über die Polizei und die Nationalgarde. Doch die beiden Gruppierungen hassen sich und bekämpfen sich gegenseitig. Dann muss man sich mal die Events anschauen, die er kürzlich abgehalten hat.
Was ist da passiert?
Die Neujahrsansprache war komplett anders als in den Jahren zuvor. Sein Gespräch mit den Soldaten-Müttern war ein schlechter Witz. Und Weihnachten hat er alleine in der Kirche gefeiert. Putin verliert die Kontrolle und zwar in rasendem Tempo.
Du hast Wagner angesprochen. Glaubst du, der Finanzier der Gruppe, Jewgeni Prigoschin, wird nächster Präsident?
Er ist gefährlich. Er ist sehr mächtig und er hat Ambitionen. Aber ich glaube nicht, dass er das Zeug zum Präsidenten hat. Putin hatte immer die Rolle als Landesvater, der alle umarmt. Prigoschin kann diese nicht erfüllen. Viele Leute in Russland mögen ihn nicht, sie denken er sei ein Gauner. Auch die russische Armee hält nicht viel von Prigoschin. Ich glaube nicht, dass er diese Leute vereinen kann. Zudem haben die Leute auch genug von diesen Kriegsgurgeln.
Wer käme denn sonst in Frage?
Vielleicht Oleg Deripaska, der im Aluminium-Geschäft reich wurde. Er ist ein gewiefter Lobbyist, der sich auch schon gegen den Krieg positioniert hat. Aber am Ende ist er immer noch ein Putin-Unterstützer, der in viele kriminelle Geschäfte verwickelt ist. Ich glaube nicht, dass er ein guter Präsident wäre, aber mit ihm könnten wir uns vielleicht wieder um unsere eigenen Dinge kümmern und nicht sinnlose Kriege führen.
Noch ist Putin aber an der Macht ...
... aber ich glaube, 2023 wird er den Jelzin-Stunt abziehen.
Den Jelzin-Stunt?
1999 sagte Boris Jelzin, der damalige Präsident, er sei müde und trete zurück. Er präsentierte sogleich seinen Nachfolger. Ich denke Putin wird das auch so machen. Sonst sehe ich nicht, wie er dieses Jahr überleben wird. Das grösste Problem von Putin ist, dass er das menschliche Leben nicht wertschätzt. Er denkt, mit unendlicher Macht könne er von oben herab dirigieren und Grosses erreichen. Dabei sind die Menschen die grösste Macht. Sie können ein Land weiterbringen. Doch das hat Putin nicht verstanden. Gestern hatte ich einen Streit mit einer Frau in einer Bar.
Worüber habt ihr gestritten?
Sie meinte, der Krieg müsse geführt werden, um an Territorium zu gewinnen. Ich habe ihr gesagt: «Wer interessiert sich schon für Territorium im Jahr 2023? Wir brauchen kluge Leute, sie bringen Russland weiter.» Mein Kampf ist es, zu beweisen, dass Putin sich geirrt hat. Am Ende wird sich das Gute durchsetzen.
Einer der wenigen Russen, der weiss und sieht wie Putin ihr Land an die Wand fährt und um Jahrzehnte zurück wirft.
Die meisten Russen werden die leider erst erkennen, wenn es zu spät ist.
Eigentlich ist der Zug schon abgefahren..
Recht hat er! Zudem hätte Russland mehr als genug Territorium. Was Russland fehlt ist ein Umfeld in dem kluge Menschen gerne arbeiten. Darum sind auch schon vor dem Krieg viele kluge Menschen abgewandert.
Ich hoffe er postet auf Telegram auch auf kyrillisch.