In der Ukraine geht der russische Angriffskrieg auch im neuen Jahr weiter. Der vermeintliche Blitzkrieg wurde zu einem Zermürbungskrieg, der seit über 10 Monaten Opfer um Opfer auf allen Seiten fordert.
Gleich zu Jahresbeginn – in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar – gelang den Ukrainern ein grosser Coup gegen die Aggressoren: Ein Gebäude in der besetzten Stadt Makijiwka in der Ostukraine wurde dem Erdboden gleichgemacht. Es war einer der tödlichsten Angriffe in der Ukraine bisher. Dutzende bis hunderte russische Soldaten sind gestorben.
Es ist ein Debakel für die russische Militärspitze, eine Blamage für Putin. Auch, weil russische Propagandisten plötzlich Kritik an der Strategie des Kreml äussern. Das sagen sie:
Bei einem Einschlag durch HIMARS-Raketen in eine provisorische Kaserne, die im Gebäude der Berufsschule Nr. 19 untergebracht war, seien 63 russische Soldaten in der besetzten Stadt Makijiwka in der Ostukraine getötet worden. Das vermeldete das russische Verteidigungsministerium am Montag.
Am Dienstagabend korrigierte der russische Generalleutnant Sergej Sewrjukow die Zahl dann nach oben. Nicht 63 Soldaten seien beim Angriff ums Leben gekommen, sondern 89. Sewrjukow räumte zudem eigene Fehler ein, die der Ukraine den vernichtenden Angriff ermöglicht hätten.
Demzufolge war der Hauptgrund für die «Tragödie», dass die Soldaten in der Neujahrsnacht trotz eines Verbots massenhaft ihre Mobiltelefone benutzt und damit die ukrainische Seite auf ihren Standort aufmerksam gemacht hätten.
Laut Sewrjukow will Russland die diensthabenden Offiziere zur Rechenschaft ziehen.
Der Generalleutnant bestätigte weiter, dass sechs Raketen von den Ukrainern abgefeuert worden waren, aber zwei der Geschosse noch vor dem Einschlag hätten abgeschossen werden können.
Es ist ein ungewöhnliches Eingeständnis für ein Militär, das schwere Verluste bislang nicht zugeben konnte.
Diese Vorgehensweise könnte darauf hindeuten, dass Russland die Oberhand über die Berichterstattung der Ereignisse behalten wolle, meint Dara Massicot, eine leitende Politologin bei der US-Denkfabrik Rand Corporation, gegenüber der «New York Times».
Das ukrainische Militär übernahm mittlerweile die Verantwortung für den Anschlag und gab an, dass «etwa 400» russische Soldaten starben – und «bis zu 10 Einheiten feindlicher Militärausrüstung» zerstört worden seien.
Wie hoch die Opferzahl tatsächlich ist, konnte bisher nicht unabhängig überprüft werden. Aber selbst die niedrigere Zahl von 89 würde einen der grössten russischen Verluste in einem einzigen Kriegsereignis im bisherigen Kriegsverlauf darstellen.
Videos, die in den sozialen Medien kursieren und Bilder, die von Nachrichtenagenturen mittlerweile verifiziert wurden, zeigen die Ruinen des Stützpunktes. Das ehemalige riesige Gebäude im Sowjetstil liegt in Trümmern.
In den sozialen Medien kursierte bereits unmittelbar nach dem Angriff die These, dass die russische Basis von den Ukrainern nur darum ausgemacht werden konnte, weil die ukrainischen Behörden an Silvester eine erhöhte Handyaktivität auf einem lokalen Funkmast in der Nähe des Gebäudes ausgemacht habe.
Das Ganze beruhte zuerst wohl auf einem Telegram-Post des russischen Staatsmediums TASS. Dort heisst es, dass durch die «aktive Nutzung von Mobiltelefonen durch die neu eingetroffenen Soldaten» die ukrainischen Streitkräfte den Standort der Russen hätten bestimmen können. Einige im Zuge der Teilmobilmachung einberufenen Reservisten hätten sich in dem Gebäude versammelt, um Neujahr zu feiern.
Die Schuld wurde also seitens des russischen Regimes auf die Opfer abgewälzt. Die Aussagen des russischen Generalleutnants Sewrjukow bestätigten diese Darstellung in der Folge.
Das führt zu harscher Kritik. Sogar Grey Zone, ein Telegram-Kanal, der mit den russischen Wagner-Söldnern in Verbindung steht, ist wegen dieser Unterstellung empört:
Der Angriff sei «ein schwerer Schlag», schrieb der Sprecher der von Russland eingesetzten Regierung in Donezk, Daniil Beschonow. Und er zeigt sich reuig:
Ein Vorwurf der Kritiker ist, dass Menschen zu nahe an einem Munitionslager untergebracht worden seien. Dies, weil die enorme Zerstörung des Gebäudes sowie die menschlichen Verluste nicht nur auf die HIMARS zurückzuführen seien, sondern auch darauf, dass Munition in demselben Gebäude gelagert wurde, in dem auch die zerstörte Kaserne war.
So schrieb der ehemalige Separatisten-Führer der Region Donezk, Igor Girkin, auf Telegram, dass hunderte von russischen Soldaten «noch unter den Trümmern liegen». Und er beschuldigte die russischen Generäle, unbelehrbar zu sein:
Girkin, der Drahtzieher hinter dem Abschuss des Fluges MA17 war, ist mittlerweile als Kritiker Putins bekannt. Er ist allerdings kein Kriegsgegner.
Neben diesen Stimmen aus den besetzten Gebieten gibt es mehrere russisch-nationalistische Blogger, die durch ihre grosse Followerzahl sehr einflussreich sind. In Russland sind sie zu einer beliebten Informationsquelle über die Kämpfe in der Ukraine geworden. Die Blogger bekommen oft Bilder oder Kampfberichte zugespielt, die (unabhängigen und russischen) Journalisten nicht zugänglich sind.
Und auch einige dieser Blogger forderten nun öffentlich, dass die Kommandeure in Donezk bestraft werden müssen, da sie Soldaten neben einem Munitionslager untergebracht hatten. АРХАНГЕЛ СПЕЦНАЗА Z («Erzengel Spezialkräfte Z») schrieb an seine 700'000 Follower auf Telegram:
Der «Erzengel» unterstellt den russischen Kommandeuren also, dass sie den Tod der Soldaten in Kauf nahmen, als sie sie in der Berufsschule unterbrachten, «obwohl sie wussten, dass sie sich in Reichweite ukrainischer Raketen befanden». Der Blogger schlussfolgert, dass der Kreml es versäumt habe, «kluge Kommandeure» in die Ukraine zu schicken.
Wladlen Tatarsky wurde noch deutlicher. Der Militärblogger, der sich noch im September an der Seite von Putin im Kreml hat ablichten lassen, forderte auf Telegram ein «Tribunal für die russische Militärführung» und bezeichnete Moskaus Spitzenoffiziere als «unerfahrene Idioten».
In einem weiteren Post rügt Tatarsky die Kommandeure, dass sie die Soldaten nicht in unterirdischen Räumen unterbrachten. Er fragt:
In dasselbe Horn bläst Andrey Medwedew, ein kremltreuer Journalist und stellvertretender Vorsitzender des Moskauer Stadtparlaments:
Putin hat in seiner Neujahrsrede – die nur wenige Stunden vor dem Angriff ausgestrahlt wurde – geschworen, die eklatanten Fehler und Schwächen seiner Streitkräfte zu korrigieren, die der Krieg ans Licht gebracht habe. Ganz im Zeichen dieser Entwicklung schreibt das Verteidigungsministerium: «Die Angehörigen und Freunde der toten Soldaten werden mit aller notwendigen Hilfe und Unterstützung versorgt.»
Der Journalist Alexander Newsorow – gegen den zurzeit ein Strafverfahren läuft, da er den Krieg mehrfach kritisiert hatte – glaubt aber nicht an die Worte des Kreml. Er beschrieb plastisch, warum wahrscheinlich nie abschliessend geklärt werden kann, wie viele Soldaten tatsächlich in Makijiwka unter den Trümmern der Berufsschule den Tod fanden:
Ich wünsche allen betroffenen Menschen, dass der Krieg dieses Jahr endet.
Den Krieg glorifizieren, die Methoden kritisieren..
Ausser, es ist ein Sieg.. dann ist alles "nach Plan gelaufen"
da wird man immer wieder ohnmächtig.. auch nach 10 Monaten!
Mir tun die zwangsrekrutierten Soldaten leid. Das einzig Positive daran ist, dass es wohl ein Nagel mehr in Sarg von Putin ist. Oder zumindest die Hoffnung darauf...