Israel hat Zehntausende Reservisten mobilisiert und laut Kabinettsbeschluss die vollständige militärische Kontrolle über den Gazastreifen ins Auge gefasst. Ist das der Beginn einer faktischen Annexion?
Andreas Böhm: Im Moment ist das vor allem ein Druckmittel. Doch die Richtung ist klar: In den Äusserungen der israelischen Regierung zeigt sich deutlich, dass ein langfristiger Plan existiert, Gaza systematisch zu kontrollieren – und möglichst viele Bewohner zu verdrängen. Wie es auch Trump mit der «freiwilligen Emigration» der Bewohner Gazas vorgeschlagen hatte.
Die israelische Regierung begründet das Vorgehen noch immer mit der Hamas, die keine Geiseln freilässt.
Offiziell soll es darum gehen, die Hamas zu einer bedingungslosen Kapitulation zu zwingen, um die letzten Geiseln zu befreien. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass dies das eigentliche Ziel ist. Das wäre ein Bonus. Es gab mehrfach Gelegenheiten, die Geiseln freizubekommen – sie wurden nicht genutzt. Das eigentliche Ziel scheint ein anderes.
Nämlich?
Benjamin Netanjahu und seine Regierung haben nach dem 7. Oktober 2023 politisch überlebt, obwohl sie für ein massives Staatsversagen verantwortlich sind. 1200 Menschen wurden getötet, weil man die Hamas unterstützt hatte, um eine politische Lösung des Konflikts zu verhindern. Im unmittelbaren Vorgang hat man Warnungen ignoriert, sogar Truppen abgezogen. Sobald der Krieg endet, wird er zur Verantwortung gezogen. Deshalb bleibt ihm nur eine Option.
Welche?
Den Krieg zu verlängern. Und als derjenige in die Geschichtsbücher einzugehen, der die Palästinenser vertrieben und Gaza ethnisch gesäubert, ja faktisch annektiert hat. Um an der Macht zu bleiben, muss er bei rechtsextremen Kreisen punkten. Dass die Vertreibung «im nächsten Krieg» vollendet werden müsse, sagte er bereits in den 1970er Jahren.
So behält er vielleicht die Gunst von Israels Rechten – aber nicht die der Weltgemeinschaft.
Das kümmert Netanjahu nicht – solange Trump ihn weiter deckt. Es ist ihm egal, was in Bern oder Brüssel gesagt wird. Wenn Macron überlegt, Palästina als Staat anzuerkennen, ist dies zwar das bisher stärkste Signal. Aber solange Washington ihn gewähren lässt, kann Netanjahu frei agieren.
Wie sicher ist es denn, dass Trump Netanjahu nicht fallen lässt?
Das ist sein grösstes Risiko. Netanjahu muss immer suggerieren, dass zwischen ihm und dem US-Präsidenten kein Blatt Papier passe. Doch Trump hat andere Interessen: Er will keinen Krieg mit Iran, strebt wohl einen umfassenden Deal an – weil er womöglich mit dem Friedensnobelpreis liebäugelt. Netanjahu darf ihm dabei nicht im Weg stehen. Gaza selbst interessiert Trump kaum – jedenfalls, solange die Golfstaaten keine Investitionen konditionieren; das Schicksal der Palästinenser ist ihm egal. Das nutzt Netanjahu aus.
Was bedeutet das für die Menschen in Gaza?
Sehen Sie sich die Bilder aus Gaza an: Das ist blanker Horror. Eine menschengemachte, vorsätzliche Hungerkatastrophe – vor den Augen der Welt. Das zuzulassen, ist die Schande unserer Zeit.
Sie haben vorhin gesagt, Netanjahu interessiert nicht, was Bern sagt. Wie müsste die Schweiz ihrer Meinung nach dennoch reagieren?
Sie müsste zunächst klar unterscheiden: Auf der Seite Israels zu stehen, heisst eben nicht, diese Regierung zu unterstützen. Ganz im Gegenteil. Und sie müsste entsprechend handeln: Konten von Siedlerterroristen einfrieren, illegale Siedlerorganisationen sowie deren Regierungsvertreter wie Smotrich und Ben-Gvir sanktionieren, internationale Haftbefehle gegen israelische Soldaten vorbereiten, die Kriegsverbrechen begehen – das Beweismaterial liefern diese mit ihren Videos oft selbst.
Aber die Schweiz kann allein nicht viel bewirken.
Das sind alles Dinge, die die Schweiz zusammen mit der EU angehen könnte. Und wenn man die immer wieder proklamierte Zweistaatenlösung ernst nimmt, wäre die europäische Anerkennung eines palästinensischen Staates ein Anfang. Aber auch in den USA könnte man steuerbefreite Organisationen, die illegalen Siedlungsbau fördern, zur Verantwortung ziehen. Es gäbe jede Menge kleine Schritte, die etwas bewirken würden.
Doch gemacht wird wenig. Was bleibt von der regelbasierten Weltordnung, wenn Verstösse wie in Gaza folgenlos bleiben?
Nicht viel. Das Konzept einer regel- und wertebasierten Ordnung können wir vorerst vergessen. Gegenüber dem sogenannten «Globalen Süden», gegenüber wichtigen Partnern wie Singapur und den Golfstaaten verliert der Westen gerade den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Es wird vielen klar, wie hohl diese Werte sind, wie selektiv diese Moral ist. Es gibt Menschenleben, die zählen – und andere, die nichts wert sind.
Was heisst das konkret für Europa und die Schweiz?
Europa muss um seine Identität kämpfen, es muss Position beziehen. Das geht nur gemeinsam: Paris, Berlin, Warschau, London – sie könnten eine gemeinsame Linie entwickeln. Dann müsste man Leute wie Orban offen konfrontieren: Mitziehen oder draussen bleiben. Die Schweiz könnte sich daran orientieren. Soft Power alleine reicht nicht. Wenn man noch glaubhaft für Werte stehen und seine Interessen verteidigen will, muss man bereit sein, sich zu exponieren.
Was hier nun geschieht hat schon lange nichts mehr mit dem Terrorakt der Hamas zu tun.
Netanjahu agiert genau mit dem selben Ziel wie die Hamas. die Vertreibung und Vernichtung der Gegenpartei durch Terror. Ein Verbrecher genau wie die, denen er Terror und Verbrechen vorwirft.