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Interview

Gaza-Annexion: Netanjahu kann machen, was er will, bis Trump ihn stoppt

epa12016439 US President Donald J. Trump (C) greets Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu (R) as he arrives for a meeting at the West Wing of the White House in Washington, DC, USA, 07 April 2025. ...
Bestimmen das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser: US-Präsident Donald Trump und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Bild: keystone
Interview

«Netanjahu will Gaza ethnisch säubern und annektieren»

Israels Regierung will den Gazastreifen dauerhaft kontrollieren und die palästinensische Bevölkerung vertreiben. Nahostexperte Andreas Böhm erklärt im Interview, wie das noch verhindert werden kann und wie die Schweiz reagieren sollte.
07.05.2025, 10:0607.05.2025, 12:54
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Israel hat Zehntausende Reservisten mobilisiert und laut Kabinettsbeschluss die vollständige militärische Kontrolle über den Gazastreifen ins Auge gefasst. Ist das der Beginn einer faktischen Annexion?
Andreas Böhm:
Im Moment ist das vor allem ein Druckmittel. Doch die Richtung ist klar: In den Äusserungen der israelischen Regierung zeigt sich deutlich, dass ein langfristiger Plan existiert, Gaza systematisch zu kontrollieren – und möglichst viele Bewohner zu verdrängen. Wie es auch Trump mit der «freiwilligen Emigration» der Bewohner Gazas vorgeschlagen hatte.

Die israelische Regierung begründet das Vorgehen noch immer mit der Hamas, die keine Geiseln freilässt.
Offiziell soll es darum gehen, die Hamas zu einer bedingungslosen Kapitulation zu zwingen, um die letzten Geiseln zu befreien. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass dies das eigentliche Ziel ist. Das wäre ein Bonus. Es gab mehrfach Gelegenheiten, die Geiseln freizubekommen – sie wurden nicht genutzt. Das eigentliche Ziel scheint ein anderes.

Andreas Böhm leitet an der Uni St. Gallen das Kompetenzzentrum Philanthropie und hat zum Libanon wissenschaftliche Studien verfasst.
«Solange Trump ihn gewähren lässt, ist Netanjahu frei»: Andreas Böhm. Bild: zvg

Nämlich?
Benjamin Netanjahu und seine Regierung haben nach dem 7. Oktober 2023 politisch überlebt, obwohl sie für ein massives Staatsversagen verantwortlich sind. 1200 Menschen wurden getötet, weil man die Hamas unterstützt hatte, um eine politische Lösung des Konflikts zu verhindern. Im unmittelbaren Vorgang hat man Warnungen ignoriert, sogar Truppen abgezogen. Sobald der Krieg endet, wird er zur Verantwortung gezogen. Deshalb bleibt ihm nur eine Option.

Welche?
Den Krieg zu verlängern. Und als derjenige in die Geschichtsbücher einzugehen, der die Palästinenser vertrieben und Gaza ethnisch gesäubert, ja faktisch annektiert hat. Um an der Macht zu bleiben, muss er bei rechtsextremen Kreisen punkten. Dass die Vertreibung «im nächsten Krieg» vollendet werden müsse, sagte er bereits in den 1970er Jahren.

Zur Person
Andreas Böhm leitet an der Universität St. Gallen das Kompetenzzentrum Philanthropie und hat zum Libanon wissenschaftliche Studien verfasst. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geopolitik, Philanthropie und der Mittlere Osten.
kma

So behält er vielleicht die Gunst von Israels Rechten – aber nicht die der Weltgemeinschaft.
Das kümmert Netanjahu nicht – solange Trump ihn weiter deckt. Es ist ihm egal, was in Bern oder Brüssel gesagt wird. Wenn Macron überlegt, Palästina als Staat anzuerkennen, ist dies zwar das bisher stärkste Signal. Aber solange Washington ihn gewähren lässt, kann Netanjahu frei agieren.

Wie sicher ist es denn, dass Trump Netanjahu nicht fallen lässt?
Das ist sein grösstes Risiko. Netanjahu muss immer suggerieren, dass zwischen ihm und dem US-Präsidenten kein Blatt Papier passe. Doch Trump hat andere Interessen: Er will keinen Krieg mit Iran, strebt wohl einen umfassenden Deal an – weil er womöglich mit dem Friedensnobelpreis liebäugelt. Netanjahu darf ihm dabei nicht im Weg stehen. Gaza selbst interessiert Trump kaum – jedenfalls, solange die Golfstaaten keine Investitionen konditionieren; das Schicksal der Palästinenser ist ihm egal. Das nutzt Netanjahu aus.

Trump Netanjahu
Stärkt ihm den Rücken: Lässt Trump Netanjahu plötzlich fallen? Bild: Keystone

Was bedeutet das für die Menschen in Gaza?
Sehen Sie sich die Bilder aus Gaza an: Das ist blanker Horror. Eine menschengemachte, vorsätzliche Hungerkatastrophe – vor den Augen der Welt. Das zuzulassen, ist die Schande unserer Zeit.

Sie haben vorhin gesagt, Netanjahu interessiert nicht, was Bern sagt. Wie müsste die Schweiz ihrer Meinung nach dennoch reagieren?
Sie müsste zunächst klar unterscheiden: Auf der Seite Israels zu stehen, heisst eben nicht, diese Regierung zu unterstützen. Ganz im Gegenteil. Und sie müsste entsprechend handeln: Konten von Siedlerterroristen einfrieren, illegale Siedlerorganisationen sowie deren Regierungsvertreter wie Smotrich und Ben-Gvir sanktionieren, internationale Haftbefehle gegen israelische Soldaten vorbereiten, die Kriegsverbrechen begehen – das Beweismaterial liefern diese mit ihren Videos oft selbst.

Aber die Schweiz kann allein nicht viel bewirken.
Das sind alles Dinge, die die Schweiz zusammen mit der EU angehen könnte. Und wenn man die immer wieder proklamierte Zweistaatenlösung ernst nimmt, wäre die europäische Anerkennung eines palästinensischen Staates ein Anfang. Aber auch in den USA könnte man steuerbefreite Organisationen, die illegalen Siedlungsbau fördern, zur Verantwortung ziehen. Es gäbe jede Menge kleine Schritte, die etwas bewirken würden.

Doch gemacht wird wenig. Was bleibt von der regelbasierten Weltordnung, wenn Verstösse wie in Gaza folgenlos bleiben?
Nicht viel. Das Konzept einer regel- und wertebasierten Ordnung können wir vorerst vergessen. Gegenüber dem sogenannten «Globalen Süden», gegenüber wichtigen Partnern wie Singapur und den Golfstaaten verliert der Westen gerade den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Es wird vielen klar, wie hohl diese Werte sind, wie selektiv diese Moral ist. Es gibt Menschenleben, die zählen – und andere, die nichts wert sind.

Was heisst das konkret für Europa und die Schweiz?
Europa muss um seine Identität kämpfen, es muss Position beziehen. Das geht nur gemeinsam: Paris, Berlin, Warschau, London – sie könnten eine gemeinsame Linie entwickeln. Dann müsste man Leute wie Orban offen konfrontieren: Mitziehen oder draussen bleiben. Die Schweiz könnte sich daran orientieren. Soft Power alleine reicht nicht. Wenn man noch glaubhaft für Werte stehen und seine Interessen verteidigen will, muss man bereit sein, sich zu exponieren.

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Im Morgengrauen des jüdischen Feiertags Simchat Tora startet die islamistische Terrororganisation Hamas einen Grossangriff auf das umliegende Gebiet in Israel. Mehrere Tausend Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Mehrere tausend Terroristen überwinden die Grenzbefestigungen und töten an einem Musikfestival und in mehreren Ortschaften wahllos Soldaten und vor allem Zivilisten.
Bild: Ein Zimmer in einem Haus im Kibbuz Kfar Aza nach dem Angriff der Hamas.
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quelle: keystone / abir sultan
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In Gaza geht das Essen aus
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131 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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ABWESEND
07.05.2025 10:30registriert September 2024
Netanjahu ist ein Kriegsverbrecher. da wird nicht im Sinne von Israel agiert, hier wird nur für die eigene Macht Erhaltung eindeutige Grenzen überschritten.

Was hier nun geschieht hat schon lange nichts mehr mit dem Terrorakt der Hamas zu tun.

Netanjahu agiert genau mit dem selben Ziel wie die Hamas. die Vertreibung und Vernichtung der Gegenpartei durch Terror. Ein Verbrecher genau wie die, denen er Terror und Verbrechen vorwirft.
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Kaltpresse
07.05.2025 10:16registriert März 2025
Wiso ‚egal‘? Habt Ihr Erinnerungslücken? Trump hat Netanjahu aufgefordert, die Palästinenser zu deportieren. Trump will dort Hotels und Golfplätze bauen.
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Lai Nair
07.05.2025 10:32registriert Dezember 2016
Dass Trump dies egal ist, verwundert bei seinem alltäglichen Gehabe nun gar niemanden. Dass der Israelisch "Chef" eine Annexion ins Auge fasst, darf auch niemanden verwundern, denn seine seit langem an den Tag gelegten Kriegsverbrechen ist Teil seiner abscheulichen und menschenverachtenden "Politik"
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