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Interview

«Er will eine militärische Niederlage zu einem politischen Sieg machen»

Russian President Vladimir Putin speaks during his meeting with WWII veterans and representatives of patriotic civil society associations at the State Memorial Museum of the Defense and Siege of Lenin ...
Wladimir Putin.Bild: keystone
Interview

«Putin will eine militärische Niederlage in einen politischen Sieg verwandeln»

Für den französischen Geopolitologen Bertrand Badie ist ein dritter Weltkrieg kein ernst zu nehmendes Szenario. Wladimir Putin versuche, sich als Führer der «ausserwestlichen» Welt aufzuspielen. Währenddessen sei unklar, ob Europa die Ukraine weiterhin so unterstützen werde, wie das bisher der Fall war.
20.01.2023, 20:43
Antoine Menusier / watson.ch/fr
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Wladimir Putin und Sergei Lawrow haben den Ukraine-Krieg jüngst mit dem Zweiten Weltkrieg verglichen. Russland habe, wie damals, die Rolle eines Bollwerks gegen den Nationalsozialismus inne. Versucht Moskau also, dem Konflikt die Dimension eines Weltkriegs zu verleihen?
Bertrand Badie: Diese Art, den Konflikt auf den Zweiten Weltkrieg zurückzuführen, zeigt uns zwei Symptome einer Niederlage. Wer militärisch besiegt wird, vor allem wenn man nicht damit gerechnet hat, reagiert als Erstes mit Abschreckung durch Eskalation. Man droht mit immer umfassenderen und entscheidenderen Mitteln. Aber vor allem, und das ist das zweite Symptom, glaube ich, dass Putins Spiel im Moment darin besteht, eine militärische Niederlage in einen diplomatischen Sieg zu verwandeln. In gewisser Hinsicht gelingt ihm das ja auch. Darum wird er auch ermutigt, so weiterzumachen.

«Wir befinden uns nicht mehr in der Zeit der grossen Invasionen, wie wir sie im Mittelalter erlebt haben.»

Wie zeichnet sich dieser Weg ab?
Den Drittparteien, die zur nicht westlichen Welt gehören, soll gezeigt werden, dass sie Opfer der westlichen Hegemonie sind, die das Bollwerk Putins bekämpfen will. Er sucht in der anti-Westen-Rhetorik eine Legitimation für seinen (international kritisch beäugten) Krieg. Vor allem aber versucht er, vorwiegend bei aufsteigenden Mächten Angst zu schüren, sie könnten bald die nächsten Ziele des Westens werden.

Angenommen, Putin schickt in den nächsten Monaten hunderttausende Soldaten in die Ukraine. Würde diese, mehr denn je in der Defensive, dann nicht um massive militärische Unterstützung aus dem Westen bitten, welcher dann noch tiefer in den Konflikt gezogen würde?
Zuerst muss da von russischer Seite her eine sorgfältige strategische Analyse gemacht werden. Ist es überhaupt möglich, den Verlauf des Kriegs im grossen Stil zu verändern, in dem man hunderttausende Männer mit zweifelhafter militärischer Ausbildung und Kompetenz in den Krieg schickt? Wir befinden uns nicht mehr in der Zeit der grossen Invasionen, wie wir sie im Mittelalter erlebt haben.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Ukraine der Ansicht ist, dass eine zweite russische Mobilmachung den Charakter des Kriegs gross ändern würde.

Ist der Westen zu mehr Engagement bereit?
Eben, ich finde es schwer vorstellbar, dass die Westmächte ihre Doktrin einfach so umkehren und von einer Nicht-Kriegsbereitschaft zur Kriegstreiberei übergehen.

Hier muss man ruhig Blut bewahren: Wenn ich sehe, dass Putin nicht mal 100 Kilometer weit in der Ukraine kommt, kann ich mir nicht vorstellen, wie er einen ‹dritten Weltkrieg› ertragen könnte.

«So ein Deal könnte durchaus einen Waffenstillstand beinhalten, vielleicht mit einigen Zugeständnissen seitens des Donbass, aber ohne die Krim wieder zu räumen.»

Wie sehen sie die jüngste Erklärung Selenskyjs am WEF, dass er die Krim zurückerobern wolle? Ist das seine Art, Putin zu sagen: «Wir haben keine Angst»?
Zweifellos steckt davon etwas dahinter. Aber ich denke, da ist noch mehr, noch Tieferes in diesen Aussagen. Mir schwebt der Gedanke an Verhandlungen, Kompromisse und Deals vor. So ein Deal könnte durchaus einen Waffenstillstand beinhalten, vielleicht mit einigen Zugeständnissen seitens des Donbass, aber ohne die Krim wieder zu räumen.»

Die Ukraine will also auf keinen Fall, dass die Krim als Druckmittel eingesetzt wird?
Ja. Meiner Meinung nach versucht die Ukraine, die Krim-Frage aus dem Diskurs zu sperren. Für die ukrainische Öffentlichkeit ist ein Kompromiss bezüglich der Krim ausser Frage. Das bedeutet, dass beim derzeitigen Stand der Dinge keine Verhandlungen infrage kommen. Und das ist es, was Selenskyj immer wieder sagen will.

Wenn die Ukraine weiterhin auf der Krim beharrt und vielleicht eine weitere Offensive plant, kommt es dann nicht zu einer Eskalation, bei der der Westen nicht anders kann, als sich daran zu beteiligen?
Der Fehler, den sie hier machen, besteht darin, wieder in Begriffen eines dritten Weltkriegs zu denken. Das heisst, sie gehen davon aus, dass so etwas geschieht, wie es vor 80 oder gar 110 Jahren passiert ist. Der Kontext ist aber einfach nicht der selbe. Ich lehne die Idee eines ‹dritten Weltkriegs› völlig ab. Ich spreche lieber von einem ‹ersten globalisierten› Krieg.

«Für die ukrainische Öffentlichkeit ist ein Kompromiss bezüglich der Krim ausser Frage.»

Die Vereinfachung des Ukraine-Kriegs zu einem allgemeinen Krieg in Europa kann nicht alle Parameter des internationalen Zusammenspiels, die Logik der gegenseitigen Abhängigkeit und Veränderungen der Machtverhältnisse auf militärischer Ebene berücksichtigen. Daher kann man eine solche Verallgemeinerung meiner Meinung nach nicht ernst nehmen.

Worum geht es also?
Was jetzt ganz wichtig ist, ist, dass die westlichen Diplomaten und Unternehmen ihren anfänglichen Kurs beibehalten. Wird der Westen dazu neigen, bei der Krim Kompromisse entgegen dem ukrainischen Willen einzugehen? Würde es dann zu Spannungen zwischen der Ukraine und ihren Verbündeten kommen? Und würden die westlichen Unternehmen, wenn sie ins Schwimmen kommen, Druck auf ihre Regierungen ausüben, um die Sanktionen zu lockern und die Militärhilfe zu kürzen?

Man konnte es ja beobachten: In den letzten 48 Stunden hat sich der westliche Diskurs verändert. Deutschland will seine Leoparde nicht liefern, und auch die USA schickt (noch) keine Abrams-Panzer.

Das ist der Beginn von etwas, das ich jetzt aber noch nicht konkret benennen kann. Ist das nur eine Geste oder der Beginn einer neuen Strategie? Wir müssen abwarten, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.

Sollte Putin nach Ende des Krieges immer noch an der Macht sein, würde er dann, wie sie bereits erwähnt haben, als «Anführer der nicht-westlichen Welt» auftreten wollen?
Ja, ich würde sagen, wenn er den Westen nicht besiegen kann, könnte Putin sich durchaus als Vertreter all jener, die eine «westliche Hegemonie» anfechten, präsentieren. Man muss diesen Begriff unbedingt in Anführungszeichen setzen, da das konzept einer «westlichen Hegemonie» umstritten ist. Putin zielt dabei wohl vorrangig auf die BRICS-Staaten [Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika] ab, zu denen sein Land ja gehört. Darüberhinaus hat er bereits bemerkenswerte diplomatische Vorstösse in Richtung Saudi-Arabien, Türkei, Iran und Israel unternommen.

Ich behaupte, dass Putins diplomatischer Gegenangriff erfolgreicher ist als seine militärische Offensive.

«Man konnte es ja beobachten: In den letzten 48 Stunden hat sich der westliche Diskurs verändert. Deutschland will seine Leoparden nicht liefern, und auch die USA schickt (noch) keine Abrams-Panzer.»

Was ist mit der Wagner-Gruppe, die unter anderem in der Ukraine aktiv ist? Kann man diese als «bewaffneten Arm» dieses Gegenangriffs deuten, vor allem in Afrika?
So einfach ist das nicht, denn die Wagner-Gruppe ist ein privater Konzern. Sie wird bekanntlich von Jewgeni Prigoschin kontrolliert, der in erster Linie für sich selbst spielt, in dem er Putin zu zeigen versucht, dass er militärisch erfolgreicher ist, als Putins Militärchef, Sergei Schoigu. Im Moment ist das gut für Putin, da er damit Erfolge einfahren kann, aber auf lange Frist könnte ihn dies behindern. Prigoschin hilft ihm heute, könnte morgen aber schon ein potenzieller Rivale sein. (cpf)

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58 Kommentare
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Kanzo
20.01.2023 21:30registriert Mai 2022
Russland als Bollwerk? Die Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ( Ehemalige Sowjets ) sind wohl kaum erfreut auf dieses Bollwerk, welches zwei seiner ehemaligen Mitglieder angegriffen hat. Belarus will sich ja auch nicht einverleiben lassen. Falls dieser Krieg endet, werde ich mir immer noch Sorgen um Georgien machen, solange Putin das sagen hat.
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Macca_the_Alpacca
20.01.2023 21:32registriert Oktober 2021
Putin ist sowas von Tod.
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Anmerkung am Rande
20.01.2023 22:33registriert Januar 2022
Russland ist der aller grösste beste Staat und Putin der klügste Präsident von allen.
Ausserdem sind alle die besten krieger die stärkste Armee und Russland das wirtschaftlich beste Land.

Nachdem ich das jetzt geklärt habe, könnt ihr euch bitte wiede aus der Ukraine verpissen.

Danke
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