Nach bald 14 Jahren Bürgerkrieg in Syrien ist die Bilanz verheerend: Über eine halbe Million Menschen wurden getötet. 90 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. 14 Millionen Menschen mussten ihr Heim verlassen. Davon sind rund 5,5 Millionen in die Nachbarländer Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten geflüchtet.
Im Libanon, wo mit 770'000 Syrerinnen und Syrern gemessen an der Gesamtbevölkerung am meisten syrische Flüchtlinge leben, herrscht nun selbst Krieg. Das führt dazu, dass seit dem Angriff Israels auf die Hisbollah innert weniger Wochen über 300'000 Menschen zurück nach Syrien geflüchtet sind. Dreiviertel davon Syrer.
In Brüssel nimmt man dies zum Anlass, um sich Gedanken über den eigenen Umgang mit den syrischen Flüchtlingen zu machen. Über 1 Million Syrerinnen und Syrer sind seit dem Krieg nach Europa gekommen. Mit rund 800'000 lebt der Grossteil in Deutschland. Generell haben Asylsuchende aus Syrien in der EU eine hohe Anerkennungsquote.
Bereits im Juli schlugen acht EU-Staaten, darunter Österreich, Griechenland, Zypern und Kroatien, vor, die europäische Haltung zu Syrien zu überdenken und Ausschaffungen möglich zu machen. Am Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs Mitte Oktober erklärte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer mit Bezug auf die Libanon-Flüchtlinge, dass Syrien nun «in vielen Bereichen dokumentiert sicher» sei. Auch Italien und die Niederlanden möchten Flüchtlinge vermehrt in das Bürgerkriegsland abschieben.
Die Debatte gewinnt also an Fahrt. Das zeigt auch die Diskussion vom Mittwoch, die im mächtigen Ausschuss der ständigen EU-Botschafter stattgefunden hat. Demnach sind sich die Mitgliedstaaten einig, dass die EU die freiwillige Rückkehr nach Syrien unterstützen soll. Zwar geht es bis jetzt erst um syrische Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und explizit um freiwillige Rückkehrer. Aber das Tabu der Rückführungen aus Europa gerät immer mehr ins Wanken.
Zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) will die EU die Bedingungen in Syrien für eine Rückkehr verbessern. Konkret geht es um den Aufbau von Infrastruktur im kriegsversehrten Land. Das UNHCR schätzt, dass bis März 2025 über 320 Millionen Dollar benötigt werden, um die reinen Grundbedürfnisse – wie ein Dach über dem Kopf und Verpflegung – für die Hunderttausenden Rückkehrer zu sichern.
Das Problem: Seit 2011 hat die EU sämtliche diplomatischen Beziehungen zum Regime von Diktator Baschar Assad abgebrochen. Damaskus wurde zum internationalen Paria erklärt und das Land mit einem engen Sanktionsgeflecht überzogen. Investitionen durch westliche Firmen und Akteure sind in Syrien strikt verboten. Nur ein kleiner Teil an humanitärer Nothilfe ist zugelassen.
Um die Rückkehr von Syrern zu erleichtern, ist ein gewisses Mass an Beziehungen zu den Behörden notwendig, auch wenn es nur auf lokalem Niveau geschieht. Die EU-Kommission schlägt deshalb vor, einen neuen Sondergesandten für Syrien zu ernennen. Viele EU-Länder begrüssen das. Gleichzeitig warnen sie davor, das Assad-Regime in irgendeiner Art zu legitimieren.
Ob Rückschaffungen nach Syrien abseits der Freiwilligkeit in der aktuellen politischen und militärischen Situation jemals möglich sein werden, bleibt fraglich. Nicht nur kommt es regelmässig zu Kampfhandlungen zwischen den syrischen Streitkräften, kurdischen Rebellen und islamistischen Gruppen mit zivilen Opfern und grossen Fluchtbewegungen. Auch werden Rückkehrer vom Assad-Regime wegen ihrer vormaligen Flucht als politische Gegner betrachtet und müssen mit Verfolgung, Folter und Verhaftung rechnen. Anfang Oktober hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) überdies entschieden, dass eine Einstufung als «sicheres Herkunftsland» sich jeweils auf ein gesamtes Staatsgebiet und nicht bloss auf einzelne Regionen beziehen darf. (aargauerzeitung.ch)