Im Gazastreifen kommt es zu heftigen Kämpfen, seitdem die israelische Armee am Wochenende die «zweite Phase» des Gegenschlags gegen die Terrororganisation Hamas ausgerufen hat. Die israelischen Bodentruppen sind offenbar daran, Gaza-Stadt in einer Klammeroperation zu umfassen, um den Feinden keine Fluchtmöglichkeit offenzulassen.
Konteradmiral Daniel Hagari, der höchste Armeesprecher Israels, sagte am Dienstagvormittag, dass «Hunderte Ziele der mörderischen Hamas-Terrororganisation» in «koordinierten Luft- und Bodenangriffen» attackiert worden seien. Laut seinen Angaben wurde dabei ein hoher Hamas-Kommandant getötet, während Israels Soldaten in «heftige Nahkämpfe» verwickelt seien.
Wie schon mehrfach von Premierminister Benjamin Netanyahu angekündigt, bestätigte Hagari erneut die geplante lange Zeitdauer bis zum Abschluss der Bodenoffensive: «Die kommenden Wochen werden Widerstandsfähigkeit und Geduld von uns allen verlangen.» Hamas vermeldete derweil auf Telegram die siegreiche Abwehr der israelischen Vorstösse.
Internationale Militärexperten hegen keine Zweifel, was die noch monatelange Dauer der aktuellen Operationen angeht. Was aber die Zeit nach der angestrebten Vernichtung der Hamas angeht, herrscht weltweit Rätselraten.
Wie kann Israel eine künftige Friedensordnung im Gazastreifen implementieren, die mehr Stabilität als die bisherige verspricht? Wem soll dabei welche Rolle zufallen? Vergeblich drängte US-Präsident Joe Biden bisher den israelischen Premier, hierzu eindeutig Stellung zu nehmen. Netanyahu lehnt mit Verweis auf die Kriegssituation ab. Im jetzigen Notstandskabinett wäre ohnehin keine Einigung auf ein bindendes Nachkriegsszenario möglich.
Unter diesen Umständen müssen alle künftigen Entwicklungen momentan Spekulation bleiben. Geht man davon aus, dass der Krieg auf den Gazastreifen beschränkt bleibt und es nicht zum befürchteten Flächenbrand kommt, sind folgende Szenarien aber zumindest denkbar.
Am späten Montagabend verbreitete die Enthüllungsplattform Wikileaks ein offizielles Dokument, welches zuerst vom hebräisch-sprachigen Onlinemedium «Mekomit» publiziert wurde. Darin empfiehlt das israelische Geheimdienstministerium die dauerhafte Zwangsumsiedlung der Bevölkerung des Gazastreifens in den ägyptischen Sinai und fordert die Regierung auf, die internationale Gemeinschaft «für einen solchen Umzug zu gewinnen».
Verified document from Israeli Ministry of Intelligence on October 13 suggests forced displacement of Gaza civilians to Egypt would "yield positive and long term strategic results"
— WikiLeaks (@wikileaks) October 30, 2023
The advisory document envisions a three stage process including the establishment of tent cities… pic.twitter.com/T5JWp9QGkv
Zudem solle eine gezielte Kampagne im Gazastreifen gestartet werden, um die Palästinenserinnen und Palästinenser zu «motivieren, dem Plan zuzustimmen». Allerdings betont «Mekomit», dieses Dokument habe keine bindende Gültigkeit und das Geheimdienstministerium keine Entscheidungsbefugnis. Zwar grassieren auch in extremen Kreisen Israels solche Entvölkerungsfantasien des Gazastreifens, doch werden diese im In- und Ausland als unrealistische Hirngespinste abgetan.
Zuallererst würde sich Ägypten mit Händen und Füssen dagegen stemmen, den Sinai für eine Umsiedlung zu öffnen; um gar nicht erst in die Situation zu geraten, hält die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi den Grenzübergang Rafah für palästinensische Flüchtlinge weiterhin konsequent geschlossen.
Die Vorstellung von über 2 Millionen Palästinensern in Zeltstädten und Flüchtlingslagern auf ägyptischem Gebiet weckt bei den Sicherheitsbehörden lediglich die Horrorvorstellung von neuen, destabilisierenden Brutstätten des Terrorismus und Rekrutierungsbasen der in Ägypten verbotenen, radikalen Muslimbruderschaft. US-Präsident Joe Biden hat laut eigenen Angaben al-Sisi zugesichert, eine Umsiedlung der Bevölkerung Gazas nach Ägypten oder in ein anderes Land nicht zuzulassen.
Earlier I spoke with Prime Minister Netanyahu about the developments in Gaza — we discussed efforts to secure the release of hostages and help Americans in Gaza leave safely, and I underscored the need to immediately and significantly increase the flow of humanitarian assistance…
— President Biden (@POTUS) October 29, 2023
Aber auch die Regierung Netanyahu schliesst die Wiederbesetzung des im Sechstage-Krieg 1967 eroberten und erst 2005 wieder geräumten Gazastreifens aus. Zumindest behauptete dies Israels UNO-Botschafter Gilad Erdan in einem CNN-Interview: «Wir haben kein Interesse daran, Gaza zu besetzen oder in Gaza zu bleiben.»
Im israelischen Parlament sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant kürzlich, Ziel sei ein «Ende der Verantwortung Israels für das Schicksal des Gazastreifens». Es ist dies eine der wenigen konkreten Aussagen eines aktuellen Regierungsmitglieds für die Zeit nach dem Krieg.
In den Augen Israels am einfachsten und klarsten wäre die formelle Rückgabe an Ägypten. Nach dem Ende der britischen Mandatsherrschaft 1948 verzichtete das damalige Königreich Ägypten auf die Annexion, stellte aber den Gazastreifen unter seine Verwaltung, die bis zur Niederlage im Sechstage-Krieg 1967 andauerte.
Inzwischen denkt Ägypten nicht mehr daran, sich den Gazastreifen erneut aufzubürden. Neben den unvermeidlichen Extremismus- und Sicherheitsproblemen wäre mit enormen Wiederaufbaukosten bei höchst ungewissen Wirtschaftsaussichten zu rechnen.
Analog dazu gibt es kein ernsthaftes Bestreben Jordaniens, das ebenfalls 1967 verlorene Westjordanland zurückzufordern, obschon dies der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger in einem aktuellen NZZ-Interview als «beste Lösung» bezeichnet.
Ausgehend von einem UNO-Mandat könnte Israel die Verwaltung an eine Gruppe von – vorzugsweise arabischen Staaten – übergeben. Bereits von 1956 bis 1967 war ein UN-Friedenstruppen-Kontingent in Gaza stationiert.
Laut verschiedenen Aussagen wäre dies die bevorzugte Lösung aus israelischer Sicht. In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» schlug Michael Milshtein, der Leiter des Forums für Palästinensische Studien an der Uni Tel Aviv vor, Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien sollten die Ordnung im Gazastreifen wiederherstellen und danach die Kontrolle einer palästinensischen Zivilverwaltung übergeben.
Was in Israel populär wäre, beurteilt das Ausland völlig anders – auch wegen der Erfahrungen in Bosnien und Herzegowina. Dort ist der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen, der die Implementierung des Dayton-Friedensabkommens überwacht, ständiger Kritik von allen Seiten ausgesetzt und kaum in der Lage, serbische Radikalisierungsbestrebungen im Zaum zu halten. Im Gazastreifen wäre sogar eine massive militärische Präsenzmacht nötig, um das Wiedererstarken der Hamas zu unterbinden.
Dieser ständigen Eskalationsgefahr will sich kein Drittstaat aussetzen, zumal Iran und Syrien weiterhin ihre Finger im Spiel hätten. Es ist das - bis zu einem Grad selbst verschuldete – Schicksal der Gaza-Palästinenser, dass in muslimischen Bruderstaaten zwar Solidaritätsbekundungen leicht von der Hand gehen, aber im konkreten Fall sich niemand ihre Probleme aufhalsen möchte.
Bliebe also nur noch die Übergabe Gazas an die Autonomiebehörde von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas? Das würde zwar für den 88-Jährigen eine besondere Genugtuung darstellen, wäre aber aus innerpalästinensischer Sicht eine nahezu absurde Vorstellung. Wurde doch die der PLO respektive der Fatah-Bewegung nahestehende Verwaltung 2007 von der Hamas nach kurzem Bürgerkrieg aus dem Gazastreifen geworfen.
In diesen 16 Jahren hat sich die Gaza-Bevölkerung von der Autonomiebehörde völlig entfremdet. Deren ewig schwächelnder Präsident Abbas gilt sogar als regelrecht verhasst, schreiben die Analysten der «International Crisis Group». Anderseits könnte die vollständige militärische Niederlage der Hamas, auf die der israelische Grossangriff vermutlich hinausläuft, die Karten unter den Palästinenserinnen und Palästinensern neu mischen.
Welches Szenario Israel anstreben wird – es sind auch Mischformen denkbar –, hängt eng mit dem Schicksal der Regierung Netanyahus zusammen. Ein katastrophaler Ausgang der Geiselkrise könnte ihren Sturz einleiten, eine Nachfolgeregierung die Szenarien anders beurteilen.
Oppositionsführer Jair Lapid bevorzugt die Übergabe des Gazastreifens an die Autonomiebehörde, wogegen es die Regierung Netanyahu vor dem Terrorüberfall vom 7. Oktober ganz gerne sah, wenn sich Hamas und Fatah bekriegten. Eine Spaltung des palästinensischen Lagers galt schliesslich als bester Garant für die Sicherheit Israels – ein fataler Trugschluss, wie die Nation schmerzlichst erfahren musste.
Deshalb gilt es bei Beobachtern als sicher, dass Netanyahu nach Abschluss der Bodenoffensive den Sicherheitspuffer um Gaza ausweiten wird, vielleicht sogar mit dem Hochziehen einer Mauer auf Kosten von palästinensischem Gebiet. Israels Aussenminister Eli Cohen deutete jüngst an, nach den Kämpfen werde ein kleinerer Gazastreifen übrig bleiben als zuvor. (aargauerzeitung.ch)
Aber für eine gelingende Einstaaten-Lösung müsste Israel vom Jüdischen Nationalstaat weg kommen und sich zu einem "normal-westlichen", laizistischen und multikulturellen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesen weiterentwickeln!
Leider hat die gegenwärtig regierende Rechts-Rechtsextrem-Koalition mit ihrem Präsidenten Netanjahu das genaue Gegenteil von einer solchen Normalisierung im Sinn, wie auch die "Justiz-Reform" duetlich macht.
Und GENAU DAS spielt den Terrororganisationen Hamas und Hisbollah in die Hände...
Wäre schön, aber Ägypten will gar nicht!