Am Tag des Massakers befindet sich der 49-jährige Dror Mishani weit entfernt in einem friedlichen Literaturzelt in Toulouse. Es interessieren sich wegen des schrecklichen Ereignisses besonders viele Leute für den Autor aus Israel, der mit seinen Avi-Avraham-Krimis und dem Bestseller «Drei» bekannt geworden ist.
Er aber hat das Gefühl, seine Bücher, über die er reden soll, seien nun bedeutungslos. Welchen Sinn mache es noch, Romane zu lesen, in denen einzelne Leute umgebracht werden, «wenn an einem einzigen Morgen Hunderte von Männern, Frauen und Kindern in ihren Häusern oder auf ihrer Strasse abgeschlachtet werden»?
Mishani erklärt dem Publikum, er habe angefangen, Kriminalromane zu schreiben, «um die Wahrheit menschlicher Gewalt zu dokumentieren und den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen, und er fährt auf dem Podium fort: «Aber was habe ich denn gewusst über das Böse und über Gewalt?»
Er überlegt, ob er überhaupt nach Tel Aviv zurückfliegen oder in Frankreich bleiben soll, weil er ahnt, was jetzt folgen wird: ein Krieg. Noch im Flieger entwirft er einen Artikel gegen diese Auge-um-Auge-Politik: «Vielleicht sollten wir Gaza nicht ausradieren? Nicht durch eine Bodenoffensive und nicht einmal aus der Luft. Es nicht dem Erdboden gleichmachen, nicht zerstören, keine Rache üben?»
Vielleicht, so Mishani weiter, sollte man zuerst einmal nachdenken, «wie wir hier mit unseren Nachbarn leben wollen, auch mit unseren derzeitigen Feinden» und ob «Zerstörung und Tod als Reaktion auf Zerstörung und Tod tatsächlich der einzige gangbare Weg ist».
Zurück in Israel, merkt er, wie ausgestorben Tel Aviv ist. Die meisten Männer sind eingezogen, Kinder und Mütter zu Hause, die Schulen geschlossen. Nur die Luftschutzbunker sind geöffnet. Er macht eine Tour auf dem Motorrad. Aus einem Streifenwagen erhält er argwöhnische Blicke. Ein unter dem Helm verborgenes Gesicht weckt Misstrauen. «Jeder könnte ein Terrorist sein.» Während er durch die verlassene Stadt fährt, wird ihm bewusst, dass Israel seit dem 7. Oktober ein anderes Land ist.
Dror Mishani hält es mit dem grossen Autor und Reporter Joseph Roth, der nach dem Ersten Weltkrieg schrieb, das Wichtigste sei nicht mehr das Dichten, sondern das Beobachten. Dieses Ziel verfolgt Mishani in seinem Tagebuch aus Tel Aviv, das den Titel «Fenster ohne Aussicht» trägt. Er macht nun Freiwilligenarbeit, erntet Salat oder bietet sich wie andere Autoren an, Nachrufe auf ermordete Geiseln zu schreiben.
Einmal fährt er als Erntehelfer in die Grenzgegend, wo sich am 7. Oktober das Massaker ereignete. Noch einen Monat später liegen Habseligkeiten der Ermordeten zwischen den Eukalyptusbäumen. Spurensicherungsteams versuchen nach wie vor, Opfer zu identifizieren. Derweil hört man die Detonationen der von Israel abgeworfenen Bomben im Gaza-Streifen.
Er schildert, wie anders das Elterndasein mit Teenagerkindern nun ist, und versucht doch, ein wenig Alltag zu retten zwischen Kriegsmeldungen, Luftalarm und Schutzraumaufenthalten. Vor allem interessiert er sich weiter für die Frage, was zu tun sei, «um hier in Frieden zu leben». Eine in manchen Ohren unerlaubte Frage.
Mishani berichtet, wie man in Israel nicht nur Jagd auf Hamas-Terroristen mache, sondern wie selbst Intellektuelle jetzt innere Feinde jagen, nämlich Prominente, die das Massaker nicht nachdrücklich genug verurteilen oder weiter die Ansicht vertreten, es müsse in einem «Kontext» gesehen werden.
Er fürchtet, in Israel könnten bald keine Bücher mehr erscheinen von Autoren und Autorinnen, die Israel im Krieg nicht rückhaltlos unterstützen würden. Sein Kriegstagebuch plant er erst gar nicht auf Hebräisch herauszubringen. Die «Jäger» hätten auch ihn «zur Strecke gebracht».
Dror Mishani hält beharrlich daran fest, das Leid auch der Bevölkerung im Gaza-Streifen einzubeziehen. Er will nicht aufrechnen, wer mehr Leid erlitten hat. Vielmehr ist sein Tagebuch ein Plädoyer dafür, dass beide Seiten aus der Gewaltspirale herausfinden müssen und dass es wichtig ist, ohne Hass zu denken. Gerade darum ist er den Ideologen und Falken in Israel suspekt.
In einem nächtlichen Gespräch fragt er seine Frau, ob sie nach all den verheerenden Bombardierungen und Vertreibungen im Gaza-Streifen noch immer denke, dass es richtig sei, was Israel dort mache. Sie bejaht dies ohne Zögern und fragt zurück, ob er denn denke, dass man gar nichts hätte tun sollen.
Obwohl der Krieg noch in vollem Gang ist und sogar eskaliert, beantwortet Dror Mishani am Schluss des Tagebuchs die Frage, ob es noch Sinn mache, sich mit Literatur zu beschäftigen, doch wieder mit einem eindeutigen «Ja». Er ist überzeugt: «Mangelnde Fantasie kann tödlich sein. Wenn man nicht wagt, ihn sich vorzustellen, kann es niemals Frieden geben.»
Während Mishani prägnant Bilder und Episoden aus dem traumatisierten und tief gespaltenen Israel schildert, geht der 91-jährige Historiker und Friedenspreisträger Saul Friedländer analytischer vor in seinem neuen Tagebuch «Israel im Krieg», das wie Mishanis Buch nicht in Israel erscheint, sondern auf Deutsch. Auch er spricht das grosse Dilemma an, in dem sich Israel befindet: Die Regierung Netanyahu habe keine klaren Ziele für ihre Operationen im Gaza-Streifen und anderswo und schon gar keine klaren Ziele für die Zeit danach.
Für Friedländer kann die einzig vernünftige politische Lösung nur sein, langfristig einen palästinensischen Staat zu schaffen, der in Frieden neben Israel existieren kann. Das soll etappenweise gelingen, sodass sich auch die palästinensische Seite an die Idee und die Vorteile einer friedlichen Koexistenz mit Israel gewöhnt.
Aber ist das nicht längst Wunschdenken? Friedländer erinnert sich an ein Gespräch mit dem legendären israelischen Verteidigungsminister Moshe Dajan, der schon in den 1950er-Jahren prognostizierte, dass es nie Frieden mit den Palästinensern geben werde. Israel müsse immer mit Waffengewalt überleben. Dajan begründete dies damit, dass die Palästinenser Bauern seien, denen man das Land weggenommen habe. Bauern würden ihr angestammtes Terrain nicht vergessen, bis sie es zurückerobert haben.
Nach dem 7. Oktober ist eine friedliche Lösung auch für Saul Friedländer in weite Ferne gerückt. Den Feldzug gegen die Hamas befürwortet er. Deren Fähigkeit, einen Angriff wie den vom 7. Oktober zu wiederholen, müsse von Israels Streitkräften zerstört werden. Dass manche in Europa und in den USA die Notwendigkeit dieses Feldzugs verneinen oder sich gar gegen Israel wenden, bekümmert Friedländer ebenso wie die neuen antisemitischen Proteste. Er habe sein Leben unter der «Wolke des Antisemitismus begonnen», und er werde es unter derselben Wolke beenden.
Spannend ist sein Tagebuch immer dann, wenn er historische Parallelen zur aktuellen Situation zieht. Für ihn war früh schon klar, dass die Hisbollah nur darauf gewartet habe, dass ein Grossteil der israelischen Streitkräfte im Süden Krieg führe, sodass man die Vernichtung Israels vom Norden her in Angriff nehmen kann. Inzwischen ist der dritte Libanonkrieg in vollem Gang.
Schon beim zweiten Libanonkrieg 2006 habe sich die Hisbollah als zäher Gegner erwiesen, hochgerüstet von ihrer Schirmherrschaft Iran. Schon damals, so Friedländer, habe der Einmarsch im Libanon zu einer zunehmenden Desillusionierung der Israeli über einen ziellosen Krieg geführt. Zu einer Lösung sei es damals nicht gekommen.
Ob das diesmal anders sein wird, muss bezweifelt werden, solange Benjamin Netanyahus Regierung an der Macht ist. Saul Friedländer schreibt, der Premierminister sei ein «verachtenswerter, selbstsüchtiger Typ», der bereit sei, «das Land für seine eigenen Interessen zu opfern. Was für eine Schande und was für eine Katastrophe!» (aargauerzeitung.ch)
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Was anscheinend in Israel niemand zu verstehen scheint:
Zwischen "gar nichts tun" und der kompletten Auslöschung des Gazastreifens mit zehntausenden von Toten, hätte es durchaus noch Zwischenstufen gegeben... 🤦♂️
Das war vielen rechtsradikalen Israelis zuviel. Ein rechtsradikaler Israeli hat ihn erschossen.
Lest selber:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/ermordung-von-jitzchak-rabin-es-wurde-genug-blut-vergossen-100.html