Journalistin wollte sie schon als Kind werden. «Jetzt fühlt es sich aber mehr wie eine Mission an», sagt Plestia Alaqad. Richtig geniessen könne sie ihren einstigen Traumjob nicht. «Es hat mir nicht Spass gemacht, über das Leid meiner Landsleute zu berichten», so die junge Palästinenserin. Sie ergänzt: «Aber es war wichtig. Immerhin habe ich durch meine Arbeit eine Plattform, um meine Geschichte und die meiner Leute selber zu erzählen.» Während 45 Tagen berichtete sie vor Ort über den Krieg in ihrer Heimat.
Wer im Internet oder in den Nachrichten nach «Gaza» sucht, sieht aktuell vor allem eines: Zerstörung, so weit das Auge reicht. Täglich fallen im Küstenstreifen Bomben. Die letzte Waffenruhe des Krieges, der mit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begann, liegt mittlerweile zwei Monate zurück. «Wir alle sehen, wie Palästinenser getötet werden. Nicht aber, wie sie gelebt haben», so Alaqad. Das trage zur Entmenschlichung ihres Volkes bei. «Es ist zu meinem Hauptjob geworden, uns zu vermenschlichen», sagt sie und seufzt. Palästinenser seien schliesslich Menschen wie alle anderen auch. «Sie verdienen es, frei zu leben und weder getötet zu werden noch zu verhungern.»
Vor dem 7. Oktober war Plestia Alaqad eine angehende Journalistin. Auf Instagram folgten ihr knapp 4000 Menschen. Dort postete sie regelmässig Bilder von sich, von Hündchen oder dem Strand im Gaza-Streifen, wo sie aufgewachsen ist. Als der Krieg begann, teilte sie ihren Alltag mit ihren Followern. Von Touren durch leere Wohnungen über ihre Flucht aus dem eigenen Zuhause bis hin zur täglichen Suche nach Essen und Wasser.
Die Einblicke in das Leben im Küstenstreifen gingen um die Welt. Bald schon wurden internationale Medien wie die amerikanische «New York Times» auf sie aufmerksam. Heute folgen ihr über 4 Millionen Menschen auf Instagram. Ihre Mission sei es nun, auf ihr Volk und deren Leid aufmerksam zu machen. «Ich habe gemerkt, dass ich, wenn ich meine Geschichte erzähle, auch die von knapp 2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern in Gaza erzähle», sagt sie.
Ende November 2023 flüchtete die Studentin aus ihrer Heimat. «Ich weiss, es war naiv von mir, aber ich dachte, ich werde in ein paar Wochen zurück sein. Das ist jetzt über ein Jahr her.» Zum jetzigen Zeitpunkt wisse sie nicht, wann oder ob sie je zurückkehren wird. «Vielleicht ist Gaza auch ein ganz anderer Ort, wenn ich zurückkomme», sagt sie. Dortzubleiben sei aber keine Option gewesen: «Was wäre die Alternative gewesen? In Gaza zu bleiben und eine der Zehntausenden zu werden, die getötet wird?»
Neben Videos hat Alaqad in Gaza auch regelmässig Tagebuch geführt, wie sie im Gespräch mit CH Media sagt. «Das habe ich schon immer.» Ihr Notizbuch steckte sie sich während der Arbeit jeweils in ihre blaue Presse-Weste, um es immer bei sich zu haben. Die Einträge wurden zur Grundlage für ihr Buch «The Eyes of Gaza», also «die Augen Gazas». So wurde die Aktivistin in den sozialen Medien genannt. Im Buch beschreibt sie Szenen wie einen kleinen Jungen, der in den Überresten seines Hauses nach seiner Pflanze gräbt, die er gesetzt hat, oder die Suche nach Süssigkeiten für eine notdürftige Geburtstagsparty eines fünfjährigen Kindes.
Mit ihrem Buch hofft Alaqad einerseits, die Geschichte ihres Volkes für die nächsten Generationen zu dokumentieren und andererseits, die Zensuren zu umgehen, die sie in den sozialen Medien plagen. «Ich musste jeweils ein Selfie von mir teilen, um die Reichweite meines Profils anzukurbeln, bevor ich ein Info-Video hochgeladen habe», sagt sie.
«Alle Begegnungen, die ich aus dieser Zeit aufgeschrieben habe, leben für immer in mir», sagt die 23-Jährige. Ein paar davon verfolgen sie bis heute: die mit Menschen, die ihre gesamte Verwandtschaft verloren haben. «Die Welt ist hart genug, wenn man seine Liebsten um sich hat.» Sie sieht sich als eine der Glücklichen: «Meine Familie lebt noch, ich kann mich also nicht beklagen. So weit sind wir schon.»
Seit sie Gaza verlassen hat, lebte Plestia Alaqad schon in Australien, Dubai und ist aktuell kurz vor ihrer Rückkehr in den Libanon, wo sie ihren Masterstudiengang in Medienwissenschaften zu Ende bringen will. Zu Hause habe sie sich seit ihrer Flucht aber nie mehr gefühlt.
Am Sonntag hat Israel seine neue Offensive im Gaza-Streifen gestartet. Die Zivilbevölkerung soll Berichten zufolge in den Süden der Enklave fliehen. Israels Vorgehen stösst international auf massive Kritik. Die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen warnen schon länger vor einer Hungersnot im Küstenstreifen. «Sechs-, siebenjährige Kinder stehen stundenlang Schlange, um sauberes Wasser zu erhalten, statt in die Schule zu gehen», so Alaqad.
Seit Beginn des Krieges habe sie neben ihrem Zuhause auch das Gefühl von Sicherheit verloren. «Alles ist anders», sagt sie. Dennoch will die Palästinenserin nicht aufhören, an eine friedliche Zukunft zu glauben. «Das Einzige, woran wir uns festhalten können, ist Hoffnung.» (aargauerzeitung.ch)