Seit Montag befinden sich die politisch ohnehin aufgeheizten USA in einem Zustand grösster Erregung. Der Grund ist ein Scoop des Magazins «Politico». Es veröffentlichte den Entwurf eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, das den Präzedenzfall «Roe vs. Wade» kippen würde, mit dem das Gericht vor fast 50 Jahren Abtreibungen landesweit legalisiert hatte.
Der vom erzkonservativen Richter Samuel Alito verfasste 98-seitige Entwurf wird laut «Politico» von fünf der neun Mitglieder des Supreme Court unterstützt. Entschieden ist nichts. Das Papier stammt offenbar vom Februar, das definitive Urteil aber dürfte im Juni verkündet werden. Es kann sich noch ändern, dennoch ist die Aufregung gewaltig.
Während Abtreibungsgegner sich am Ziel ihrer jahrzehntelangen Hoffnungen wähnen, geht das «Pro Choice»-Lager auf die Strasse. Landesweit fanden Kundgebungen statt für das körperliche Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Präsident Joe Biden und die Demokraten wollen das nationale Recht auf Abtreibung in einem Bundesgesetz verankern.
Das dürfte angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress chancenlos sein. Damit könnte der Schwangerschaftsabbruch in Amerika künftig von der «Willkür» der einzelnen Bundesstaaten abhängig werden, was den Kulturkampf zwischen Konservativen und Progressiven verschärfen dürfte. Denn es drohen weitere Rückschritte.
Derzeit aber wird vor allem darüber spekuliert, wie der Urteilsentwurf an die Öffentlichkeit gelangen konnte. Der Gerichtshof bestätigte seine Echtheit. John Roberts, der Vorsitzende des Supreme Court, sprach von einem «einzigartigen und ungeheuerlichen Vertrauensbruch». Er leitete eine Untersuchung zur Urheberschaft des Lecks ein.
Unter Verdacht stehen linksliberale Insider. Mit der Weitergabe des Entwurfs hätten sie auf die drohende Gefahr für ein Grundrecht aufmerksam machen wollen. Die Indiskretion könnte aber auch aus der rechten Ecke kommen. Der Grund ist John Roberts, der sich als Vorsitzender angeblich um einen mehrheitsfähigen Kompromiss bemüht.
Dieser würde das scharfe Abtreibungsgesetz des Staates Mississippi, um das es im konkreten Fall geht, weitgehend intakt lassen, ohne «Roe vs. Wade» zu kippen. Im Fokus von Roberts sind gemäss «Wall Street Journal» Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett, die von Donald Trump ernannt wurden. Das Leck soll sie demnach «auf Linie» halten.
Hinter dem drohenden Aus für einen Präzedenzfall von 1973 steckt nicht nur Ideologie. Von Anfang an hatten Rechtsexperten kritisiert, «Roe vs. Wade» basiere auf einer anfechtbaren und instabilen Grundlage. Insofern ist es fast ein Wunder, dass es sämtliche Anfechtungen überstanden hat. Nun aber haben die Konservativen im Gericht eine 6:3-Mehrheit.
Zur ihrem Rechtsverständnis gehört die Überzeugung, dass alle Themen, die nicht in der Bundesverfassung stehen, in die Kompetenz der Gliedstaaten fallen. Samuel Alito kritisiert im Entwurf die Begründung von 1973, wonach das Abtreibungsrecht, das in der Verfassung nicht erwähnt werde, Teil sei eines Rechts auf Privatsphäre, «das ebenfalls nicht erwähnt wird».
Tatsächlich verwendete Harry Blackmun, der die damalige Urteilsbegründung verfasst hatte, einen umstrittenen Kniff. Er benutzte als Grundlage für den Entscheid den 14. Zusatzartikel in der Verfassung der Vereinigten Staaten, der nach dem Bürgerkrieg verabschiedet wurde und die rechtliche Gleichstellung der ehemaligen Sklaven sicherstellen sollte.
Wegen der relativ allgemeinen Formulierung wurde daraus ein Recht auf Privatsphäre abgeleitet, mit dem wiederholt eine Ausweitung der Grundrechte begründet wurde, auch im Fall «Roe vs. Wade». Selbst Juristen, die das Abtreibungsrecht befürworten, hätten von einer «sehr schlechten Entscheidung» gesprochen, schreibt die «Los Angeles Times».
Sollte «Roe vs. Wade» rückgängig gemacht werden, befürchten Aktivisten schlimme Auswirkungen auf andere Grundrechte. Einige der Ängste wirken übertrieben, etwa dass die Empfängnisverhütung oder sogar «gemischtrassige» Ehen verboten werden könnten. Alito betont im Entwurf, seine Urteilsbegründung beziehe sich einzig auf Abtreibungen.
Zumindest in einem Bereich aber könnte ein solches Urteil gravierende Folgen haben: für gleichgeschlechtliche Ehen. Diese wurden vom Obersten Gerichtshof erst 2015 landesweit legalisiert, mit dem Urteil im Fall «Obergefell vs. Hodges». Es handelt sich also um einen relativ «frischen» Präzedenzfall, ohne die lange Tradition von «Roe vs. Wade».
LGBTQ-Aktivisten sind extrem besorgt. Experten bezweifeln gemäss «Washington Post» jedoch, dass die Homo-Ehe gefährdet ist. Sie verweisen auf einen erheblichen Unterschied zum Abtreibungsrecht: Es gibt mehr als 500’000 gleichgeschlechtliche Ehepaare in den USA. Die Folgen einer Abschaffung für sie wären unabsehbar, menschlich und juristisch.
Davor dürfte selbst ein mehrheitlich stramm konservativer Supreme Court zurückschrecken, denn neben formalistischen gibt es in seinen Urteilen oft auch praktische Abwägungen. Progressive Aktivisten wird dies kaum beruhigen. Wie auch immer das Abtreibungsurteil im Juni ausfallen wird, der Kulturkampf in Amerika dürfte noch härter geführt werden.
Zudem würde das 50 Jahre Fortschritt zunichte machen.
Früher wurden radikale Gottesstaaten von den USA bekämpft. Jetzt werden Sie selber zu Einem mit Anzeichen von Diktatur.
Ich hoffe, die demokratischen Kräfte können die Republikaner (GOP) noch stoppen.