Das Online-Magazin «Politico» ist in der Washingtoner Politik bestens vernetzt. Wiederholt hat es Interna aus dem Machtzentrum ans Licht gebracht. Der bislang grösste Coup aber gelang den «Politico»-Journalisten am Montag: Sie veröffentlichten den Entwurf eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, mit dem das landesweite Recht auf Abtreibung Geschichte wäre.
Der definitive Entscheid des Supreme Court dürfte im Juni publik werden. Dennoch sorgte die «Politico»-Bombe für massive Reaktionen. Kurz vor Mitternacht versammelten sich Demonstrierende vor dem Gerichtsgebäude in Washington, um gegen das drohende Aus für den Schwangerschaftsabbruch zu protestieren. US-Medien tickerten live.
Der Vorgang allein ist ein Tabubruch, denn das neunköpfige oberste Justizorgan der USA pflegt seine Beratungen in grösster Verschwiegenheit durchzuführen. Nur selten sickert etwas nach draussen, schon gar nicht ein Urteilsentwurf. Im konkreten Fall ist der Vorgang jedoch wenig überraschend. Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten:
Das Recht auf Abtreibung steht in den USA seit Jahrzehnten im Zentrum des Kulturkampfs zwischen Konservativen und Progressiven. Der grosse Durchbruch gelang den Befürwortern 1973, also vor fast genau 50 Jahren. Damals entschied der Oberste Gerichtshof im Fall «Roe vs. Wade», den Schwangerschaftsabbruch auf nationaler Ebene zu legalisieren.
Seither sind Abtreibungen im ganzen Land straflos möglich. Konservativen und Evangelikalen ist «Roe vs. Wade» ein Dorn im Auge. Sie haben wiederholt und bislang vergeblich gehofft, diesen Präzedenzfall im Supreme Court kippen zu können. Nun haben die Rechten mit den drei Ernennungen von Präsident Donald Trump im Gremium eine solide 6:3-Mehrheit.
Dieser Rechtsschwenk und der in den letzten Jahren verschärfte Kulturkampf haben dazu geführt, dass republikanisch regierte Bundesstaaten vor allem im Süden und im Mittleren Westen das Abtreibungsrecht massiv verschärft haben. Teilweise ist es den Frauen sogar verboten, eine durch Vergewaltigung oder Inzest verursachte Schwangerschaft zu beenden.
Ein Gesetz des Bundesstaats Louisiana hatte der Oberste Gerichtshof 2020 noch kassiert. Das «Denunziationsgesetz» in Texas hingegen hat er bislang gegen alle Anfechtungen verteidigt. Im jetzigen Fall geht es um ein Gesetz aus dem Staat Mississippi, das nach Ansicht von Experten explizit so formuliert wurde, um «Roe vs. Wade» auszuhebeln.
Der geleakte Entwurf wurde von Samuel Alito verfasst. Der 72-jährige Richter wurde von Präsident George W. Bush ernannt und bildet zusammen mit seinem schwarzen Kollegen Clarence Thomas den rechten Rand im Supreme Court. Im Entwurf schreibt er, das Urteil im Fall «Roe vs. Wade» sei «von Anfang an ungeheuerlich falsch» gewesen.
Nach Ansicht von Rechtsexperten trifft Alito einen wunden Punkt. Selbst seine 2020 verstorbene Kollegin Ruth Bader Ginsburg, eine Ikone des amerikanischen Feminismus und strikte Abtreibungsbefürworterin, hatte wiederholt bemängelt, das Gericht habe das Urteil von 1973 auf einer juristisch wackeligen und anfechtbaren Grundlage gefällt.
Das definitive Urteil wird vermutlich im Juni veröffentlicht. Mit seinen Argumenten habe Alito aber die vier Konservativen Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett überzeugt, schreibt «Politico» unter Berufung auf eine «mit den Beratungen vertraute Person». Die drei progressiven Mitglieder waren wie erwartet dagegen.
Unklar ist die Position von John Roberts, dem Vorsitzenden des Supreme Court. Er war bei seiner Ernennung ebenfalls ein strammer Konservativer. In den letzten Jahren ist er jedoch in die Mitte gerückt. Es heisst, er bemühe sich um einen Kompromiss, der «Roe vs. Wade» retten würde. Doch selbst mit den linken Richtern hätte Roberts keine Mehrheit.
Konservative Juristen, so genannte «Originalisten», vertreten den Standpunkt, dass alle Themen, die in der Verfassung der Vereinigten Staaten nicht erwähnt sind, auf Ebene der Bundesstaaten geregelt werden sollen. Dazu gehört der Schwangerschaftsabbruch. Alito betont im Entwurf das Recht der Staaten, «Abtreibungen zu regulieren und zu verbieten».
Congress must pass legislation that codifies Roe v. Wade as the law of the land in this country NOW. And if there aren’t 60 votes in the Senate to do it, and there are not, we must end the filibuster to pass it with 50 votes.
— Bernie Sanders (@SenSanders) May 3, 2022
Die republikanisch regierten Staaten werden sich nicht zweimal bitten lassen. Einige haben Gesetze verabschiedet, die nach einer Annullierung von «Roe vs. Wade» in Kraft treten sollen. Andere haben Verschärfungen aufgegleist. Einigen rechten Aktivisten genügt dies nicht. Sie verlangen ein Bundesgesetz, das Abtreibungen landesweit verbietet.
Demokratische Politiker halten dagegen. Senator Bernie Sanders forderte seinerseits ein Gesetz, mit dem «Roe vs. Wade» zum landesweiten Recht erklärt wird. Das ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress unrealistisch. Dafür betonten demokratische Gouverneure aus mindestens 16 Staaten, sie wollten das Abtreibungsrecht schützen.
Die Annullierung eines vor 50 Jahren gefällten und von vielen als Meilenstein betrachteten Urteils wäre ein weitreichender Schritt. Er ist jedoch nicht ohne Vorbild. 1896 urteilte der Supreme Court im Fall «Plessy vs. Ferguson», dass getrennte Eisenbahnwaggons für Schwarze und Weisse im Staat Louisiana mit der Bundesverfassung vereinbar sind.
Faktisch wurde damit die Rassentrennung landesweit legalisiert. Es dauerte 58 Jahre, bis das Gericht diesen Entscheid mit einem einstimmigen Urteil im Fall «Brown vs. Board of Education» kippte und die Rassentrennung für verfassungswidrig erklärte. Selbst Konservative anerkennen, dass dieses Urteil ein gesellschaftlicher Fortschritt war. Jetzt droht ein Backlash.
Umfragen haben gezeigt, dass das Recht auf Abtreibung in der amerikanischen Bevölkerung breit verankert ist. Selbst konservative Frauen unterstützen es unter bestimmten Umständen (Vergewaltigung, Inzest, Gefahr für das Leben der Mutter). Die heftigen Reaktionen auf die «Politico»-Enthüllung deuten auf turbulente Zeiten hin.
Schon für Dienstag haben Aktivistinnen landesweit zu Kundgebungen aufgerufen. Samuel Alito scheint das Ungemach geahnt zu haben. Es gehe nur um das Recht auf Abtreibung und nichts anderes, schreibt er im Entwurf. Frauen seien «nicht ohne elektorale und politische Macht». Ihre Wahlbeteiligung sei höher als jene der Männer.
Das zeigt sich womöglich schon bei den Kongresswahlen im November. Bislang deutete alles darauf hin, dass Präsident Joe Biden und die Demokraten ihre Mehrheit in beiden Kammern verlieren werden. Ob ein Aus für «Roe vs. Wade» etwas daran ändern würde, ist zweifelhaft. Aber langfristig könnte ein solches Urteil den Republikanern erheblich schaden.
In einem Rechtsstaat bräuchte es eine Mehrheit des Parlaments oder der Bevölkerung, um ein Gesetz zu ändern. Im System des Common Law gibt es hingegen eine Vielzahl an Gerichtsurteilen, welche faktisch das Gesetz bilden. Dann reicht ein kleines Gremium, um einen Präzedenzfall zu kippen.
Das steht in fundamentalem Widerspruch zu meinem Verständnis von Demokratie.