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Coronavirus: Brasilien hat 100'000 Todesopfer – Bolsonaro kennt Schuldige

epa08592304 An installation of red ballons and crosses honoring victims of the coronavirus pandemic in Brazil, at Copacabana beach in Rio de Janeiro, Brazil, 08 August 2020. Brazil is the second most  ...
100 Kreuze an der Copacabana in Rio de Janeiro stehen für die Opfer der Corona-Pandemie.Bild: keystone

Brasilien zwischen Ignoranz und Angst

09.08.2020, 08:47
Martina Farmbauer / dpa
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Marco Antonio do Nascimento ist wiedergekommen an den Strand von Copacabana. Mit seinem Sohn Lucas Cruz steht er zwischen 100 schwarzen Kreuzen im Sand, die an die Kreuze auf einem Friedhof erinnern, auf dem Opfer der Corona-Pandemie in Rio de Janeiro begraben wurden. Die beiden Männer halten eine brasilianische Fahne, während 1000 rote Luftballons zu Ehren der Opfer des Coronavirus aufsteigen. Das ist am Morgen, am Samstagabend hat Brasilien die Marke von 100'000 Toten im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 durchbrochen.

Und wieder, wie bei der ersten Aktion von «Rio de Paz» im Gedenken an die Corona-Opfer und aus Protest gegen das Krisenmanagement der Regierung, pöbelt ein vorbeigehender Anhänger des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro die Teilnehmer an. «Fake News» nennt er die Zahl der Corona-Toten. Nascimento, der ein Kind im Zusammenhang mit Covid-19 verloren hat, weist ihn zurecht. «Sag' nicht, dass das ‹Fake News› sind», fordert er den Passanten auf - und zeigt ihm ein Foto seines Sohnes Hugo, gestorben im Alter von 25 Jahren.

Marcio Antonio do Nascimento, left, holding a photo of his 25-year-old son Hugo do Nascimento who died from COVID-19, argues with a person who said the deaths related to COVID-19 are fake news, during ...
Marco Antonio do Nascimento verlor seinen 25-jährigen Sohn wegen Corona.Bild: keystone

Brasilien ist immer noch das von der Corona-Pandemie am zweitstärksten betroffene Land nach den USA, hat inzwischen 3'012'412 Infizierte und 100 477 Tote. «Lassen Sie uns das Leben berühren», sagte Bolsonaro, während Friedhofsarbeiter in Schutzkleidung Särge mit Corona-Toten tragen. Seine Umfragewerte, der er selbst infiziert war und Corona als «kleine Grippe» verharmlost hatte, sind indessen gut wie lange nicht.

Viele Opfer – wenig Protest

«Die hohe Opferzahl in Brasilien führt nicht – wie man von aussen erwarten würde – zu einer hohen Ablehnung», sagt der deutsch-brasilianische Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von der Fundação Getulio Vargas in São Paulo der Deutschen Presse-Agentur. Ein grosser Teil der Bevölkerung stelle nicht den Zusammenhang her, dass ihr Land im internationalen Vergleich schlecht dasteht.

Cemetery workers bury 65-year-old Maria Joana Nascimento, whose family members, behind, suspect died of COVID-19, at Vila Formosa cemetery in Sao Paulo, Brazil, Thursday, Aug. 6, 2020. Brazil is neari ...
Eine Beerdigung im Vila-Formosa-Friedhof in Sao Paulo, 6. August.Bild: keystone

24 Mal so gross wie Deutschland, ist es sehr mit sich selbst beschäftigt. Auf 45 Prozent ist die Zustimmung in Umfragen zuletzt sogar gestiegen. Bolsonaro hat es geschafft, dass viele Brasilianer glauben, 100'000 Corona-Tote, eine tiefe Wirtschaftskrise und die Zerstörung des Regenwaldes hätten nichts mit dem Präsidenten zu tun.

Einige wenige soziale Bewegungen und Gewerkschaften wie vor der Kathedrale in São Paulo am Freitag demonstrieren noch gegen ihn. Mit Kreuzen, auf denen «100 MIL MORTES – FORA BOLSONARO» (100'000 Todesfälle – Bolsonaro raus) steht, oder einem Banner mit den Worten «100 MIL VIDAS PERDIDAS» (100'000 verlorene Leben). Die einzige gesellschaftliche Regung, die zählt, sei wie viele Leute auf die Strasse gehen, sagt Politikwissenschaftler Stuenkel.

Zwischenzeitlich hatten Tausende Brasilianer ihrem Unmut über den laxen Umgang des Präsidenten mit dem Coronavirus Luft gemacht; eine neue Demokratiebewegung, angeführt von Fussballfans, bildete sich. Aber viele, die Bolsonaro kritisch sehen, haben Angst, sich bei Demonstrationen anzustecken und bleiben zu Hause. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute bei 100'000 Toten sagen: ‹Oh Gott!›», sagt Stuenkel. Und es noch einmal zu einem Moment der Mobilisierung komme. Ein persönliches Schicksal berührt ohnehin mehr als Zahlen, besonders in einem Land, in dem die Familie über allem steht.

«Nur eine kleine Grippe»

Doch selbst das gilt im Fall von manchen Corona-Infizierten mit heftigen Symptomen nicht, wenn Familienangehörige Bolsonaro-Anhänger sind. «Das ist doch nur eine kleine Grippe», bekommen sie zu hören, wie der Präsident anfangs Verwirrung über die Schwere der Krankheit gestiftet hatte. Das Bild, wie ihm die Schutzmaske über die Augen rutscht, ist symbolisch für das Ignorieren der Gesundheitskrise.

«Er brauchte einen Schuldigen.»
epa08305143 President of Brazil Jair Bolsonaro wears a face mask during a press conference on the measures taken by the government against the spread of the coronavirus, in Brasilia, Brazil, 18 March  ...
Symbol für das Ignorieren der Gesundheitskrise: Bolsonaro rutscht die Maske über die Augen (18. März).Bild: EPA

Schuld sind die anderen

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador – obwohl ideologisch am anderen Ende des Spektrums – spielt deren Ernst ähnlich immer wieder herunter. Auch wollte Bolsonaro – wie López Obrador, der nie eine Ausgangssperre verhängte – keine Massnahmen zur Eindämmung treffen. «Bolsonaro weiss, dass die Wirtschaftskrise extrem werden wird, vor allem in Lateinamerika, dass viele Regierungen das nicht überleben werden», sagt Stuenkel. «Er brauchte einen Schuldigen.»

Das sind die Gouverneure, an die das oberste Gericht die Kompetenzen übertrug. Nachdem diese vielerorts Massnahmen erlassen hatten, wurde vielerorts wieder gelockert. In Rio etwa ist das Baden im Meer wieder erlaubt. Ein grosser Teil des Lebens am Zuckerhut spielt sich im Freien ab. Vor allem am Wochenende ist es schwer, die Bewohner dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben. Dann füllen sich für gewöhnlich Strände und Bars.

Sogar, dass er sich selbst mit dem Coronavirus infiziert hat, nutzte Bolsonaro politisch. Der leichte Krankheitsverlauf und die schnelle Genesung bestätigten seine Aussage. Wäre er ernsthaft erkrankt, wäre ihm wie nach einem Messerangriff im Wahlkampf 2018 die Anteilnahme seiner Landsleute sicher gewesen. Aber nur ein Nandu biss ihn im Garten der Präsidentenresidenz in der Quarantäne in den Finger. (sda/dpa)

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