In der Alpinistenwelt herrscht grosse Aufregung. Denn eine seit Jahrzehnten bestehende Gewissheit soll plötzlich falsch sein.
Bislang galt der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner dort als der erste Mensch, der alle 14 Achttausender der Welt bestiegen hat – und ausserdem als erste Person, die dies ohne Hilfe von Sauerstoff aus der Flasche geschafft hat. Inzwischen ist er auf der Internetseite des Guinness-Buches lediglich als «Vermächtnis»-Rekord gelistet. Das heisst: Der Rekord wurde zu einer Zeit anerkannt, als die Berechnungen nicht dem heutigen Stand entsprachen.
Grundlage sind neue, umstrittene Berechnungen – unter anderem mit Geodaten, wonach etliche Bergsteiger vor Erreichen des «wahren Gipfels» wieder umgekehrt seien. Insbesondere der deutsche Himalaya-Chronist Eberhard Jurgalski sagt schon länger, dass Messner nie ganz oben auf dem Gipfel des 8091 Meter hohen Annapurna gestanden habe.
Es war auch Jurgalski, der die Aberkennung von Messners Rekorden öffentlich gemacht hat. Jurgalskis Veröffentlichungen und die darauf folgende Guinness-Entscheidung haben einen Gipfelstreit in Gang gesetzt. Messner reagierte zunächst gelassen: «Einen Rekord, den ich nie in Anspruch genommen habe, kann man mir auch nicht nehmen,» sagte er der Nachrichtenagentur DPA. Es interessiere ihn nicht, ob sein Name im Guinness-Buch steht.
Auf Instagram hingegen schrieb Messner vor drei Tagen: «Es ist ein bisschen komisch, dass immer wieder Leute meine Person, meinen Namen benutzen, um sich wichtig zu machen. Weil sie selbst nichts zu erzählen haben? Nichts erreicht haben? Nicht den Mut hatten, ihre Träume zu verwirklichen?» Auf Jurgalskis Berechnungen angesprochen, sagte er aber auch der DPA: «Der hat keine Ahnung. Der ist kein Experte. Der hat einfach den Berg verwechselt. Natürlich sind wir auf dem Gipfel angekommen.»
Danach schien Messner die Geschichte allerdings ad acta zu legen. Auf Instagram schrieb er:
Seitdem hat sich der Streit aber längst verselbstständigt. Jurgalski berichtet von einem Shitstorm gegen seine Person: Er werde mittlerweile von Messners Anhängern beschimpft, sagte der Lörracher im Gespräch mit der DPA. «Ich habe Messner keinen Rekord aberkannt, sondern seine Leistung lediglich einordnen wollen.» Der Bergsteiger habe nur einen Fehler gemacht. «Messner hat viel geleistet, aber einen kleinen menschlichen Fehler gemacht – so wie andere auch», so Jurgalski.
Der Lörracher betont zudem, seine Veröffentlichungen zu den neuen Berechnungen seien nicht persönlich gegen Messner gerichtet gewesen. Schliesslich habe er herausgefunden, dass auch andere nicht die Gipfel der Achttausender Annapurna, Dhaulagiri und Manaslu erreicht hätten.
Am Mittwoch gab Jurgalski ausserdem dem «Tagesanzeiger» ein Interview. Er verteidigt darin seine Erkenntnisse und betont seine nach wie vor vorhandene Bewunderung für Messner: «Messner hat solo den Mount Everest bestiegen, ohne Sauerstoff! Er bleibt der Grösste», so Jugalski. Er könne auch nachvollziehen, dass Bergsteiger enttäuscht sind, wenn sie Rekorde verlieren und für viele tue es ihm leid. Einer, dem er ebenfalls einen Rekord aberkannt hatte, habe ihm sogar die Freundschaft gekündet.
Auf die Frage angesprochen, ob es das Ganze alles wert sei, angesichts Konsequenzen wie dieser, sagte Jugalski: «Ganz ehrlich, wenn ich früher gewusst hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich mir irgendwann ein anderes Hobby gesucht. Es ist sehr zermürbend, wenn ein Mediengigant wie Messner mich beschimpft.» Er werde alles tun, damit publik werde, dass er nicht der Teufel sei, der «das schöne Spiel der früheren Bergsteiger» zerstöre.
Doch auch Reinhold Messner hat mit seinem versöhnlichen Instagram-Post vom Montag offenbar nicht das letzte Wort gesprochen. Am Mittwoch äusserte er sich erneut auf der Plattform, wie «20 Minuten» berichtet, diesmal deutlich angriffiger: «Spannend, dass E. Jurgalski Chefberater beim Guinnessbuch der Rekorde ist!!!» Dieser Post wurde mittlerweile allerdings wieder gelöscht.
Am Tag vorher dankte Messner ausserdem – etwas kryptisch – seinen Followern: «Ich bin überwältigt von dem Verständnis und dem Wissen meiner Follower, sie können die Dimension meines Bergsteigens begreifen und das freut mich!»
Gemäss den neuen, von Jurgalski angestossenen Daten, auf die die Organisatoren des Guinness-Buches zurückgreifen, wird nun dem US-Amerikaner Ed Viesturs der Titel zugesprochen. Dieser wiederum springt seinem weltweit bekannten Bergsteiger-Kollegen nun zur Seite. «Ich bin der festen Überzeugung, dass Reinhold Messner der erste Mensch war, der alle 14 Achttausender bestiegen hat, und dass dies auch heute noch anerkannt werden sollte», sagte Viesturs auf DPA-Anfrage.
Doch nach Berechnungen von Jurgalskis Team hat Messner niemals die Spitze des Annapurna erreicht. Grundlage seiner These sind Geodaten, wonach er und etliche andere Bergsteiger vor Erreichen des «wahren Gipfels» wieder umgekehrt seien. «Messner war an einem Punkt 65 Meter vor und fünf Meter unter dem Gipfel», so Jurgalski.
Bergsteiger-Experten zufolge war es in der Vergangenheit bei vielen Gipfeln nicht immer eindeutig klar, wo genau der höchste Punkt war und ob man ihn erreicht hatte. Dabei spielte vor allem die Unübersichtlichkeit eine Rolle. Sturm, Schnee und vor allem fehlendes GPS beeinträchtigten damals den Orientierungssinn. «Ob wir nun fünf Meter höher standen oder nicht – das kann niemand wissen auf der Welt. Weil der Sturm zu stark war und ein White Out herrschte: dichter Nebel, alles weiss um uns herum, Schnee, Eis», sagte Messner der FAZ. Nicht nur der Gipfel sei damals sein Ziel gewesen, sondern auch der Weg dorthin.
Als Messner 1985 den Annapurna erklomm, gab es keine Geodaten und GPS. «Ich glaube, dass Messner und die anderen ihr Möglichstes getan haben, um auf diesen Bergen die wahren Gipfel zu besteigen, und zwar nach bestem Wissen und unter den Bedingungen, die sie vor Ort vorfanden,» sagt auch der neue Rekordmann Viesturs.
Ob der Gipfelstreit irgendwann beigelegt werden kann? Nach der Löschung seines Instagram-Posts bleibt Reinhold Messners jüngster Post «unpolitisch»: ein Foto zum Messner Mountain Museum, darunter: «Meine Leidenschaft ist es, Geschichten zu kreien und zu erzählen.» (lak/sda/dpa)
Diese Experten die ständig etwas einordnen müssen, sind wahrlich die Seuche unserer Zeit!
Ich steige auch nicht mit der Wasserwaage auf einen Gipfel und suche dann den höchsten Punkt. Es reicht die Gewissheit oben gewesen zu sein. Aber diese Theoretiker können das nicht verstehen.
Danke, keine weiteren Fragen.