Unser Bild der USA ist geprägt von Aufenthalten in den Metropolen der Ost- und Westküste. Von dort werden wir mit Social-Media-Inhalten, Spielfilmen und Musik überhäuft. Und deshalb sind die Ost- und Westküstler aus New York oder Los Angeles für uns die klassischen Amis: Wir belächeln sie ein bisschen, aber wir glauben, sie mehr oder weniger zu verstehen.
Doch was geschieht abseits der Touristen-Hotspots? Wie ticken die Leute aus Lamont, Oklahoma? Was bewegt dort den Mittelstand – oder das, was davon übrig geblieben ist? Welche Sorgen treiben die Bevölkerung in den Flyover-States um?
Wer es wissen will, dem sei das Buch «Hillbilly Elegy» von JD Vance empfohlen. Der Vize-Präsident schrieb den klugen Bestseller, bevor er sich von politischen Ambitionen korrumpieren liess. Wer zu wenig Geduld hat für 264 Seiten, der kriegt einen ähnlichen Einblick mit dem neuen Doppelalbum von Morgan Wallen.
«I’m the Problem» besetzt nun schon in der dritten Woche die Spitzenposition der Billboard-Charts. Musikalisch bietet das Album wenig – es sei denn, man mag süffigen Country-Pop. Die Texte hingegen sind für uns Europäer ein Ausritt in den oft übersehenen und belächelten psychischen Zustand der amerikanischen Bevölkerung abseits der urbanen Zentren. Wallen gibt denen eine Stimme, die von der amerikanischen Politik links liegen gelassen wurden, die von Hillary Clinton als «Bedauernswerte» abgekanzelt wurden. Dabei bilden sie die Mehrheit der 340 Millionen Menschen im Land.
«This tryin' to make a livin' isn't supposed to feel like dyin» – «Der Versuch, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sollte sich nicht wie Sterben anfühlen», heult Wallen in «Working Man’s Song». Er trifft damit den Alltagsblues für viele in den USA. Über die Hälfte aller Amerikaner hangeln sich von Lohncheck zu Lohncheck. Steigt der Eier- oder Benzinpreis, muss der Gürtel woanders enger geschnallt werden. Wenn das denn möglich ist. Die Kreditkartenverschuldung hat in den USA neue Rekordhöhen erreicht: 1,2 Billionen sind average Joe und Jill bei den Finanzinstituten in der Kreide – 6500 Dollar im Schnitt pro KartenhalterIn.
Der US-Durchschnitts-Job hat wenig mit Startup-Milliarden und Florida-Selfies zu tun. Aber früher reichte er für ein gemütliches Einfamilienhäuschen und ein Auto. Heute hält derselbe Job gerade noch so über Wasser. «And these days, nine-to-five feels more like twenty-five to life», beschreibt Wallen die Situation. «Heute fühlen sich diese 9-5-Jobs an, wie eine Haft von 25 Jahren bis lebenslänglich». Der US-Alltag ist für die Mittel- und Unterschicht hart. Viele fühlen sich im Stich gelassen. Und wenn man diesen Leuten noch das Gefühl gibt, ihre Probleme seien im Vergleich zur Verwendung korrekter Pronomen unwichtig, dann ist die politische Kurzschlussreaktion in Käffern wie Sneedville, Tennessee, vorprogrammiert.
Von dort stammt Morgan Wallen. Aus einem 1300-Seelen-Nest in Hancock County. Die Bevölkerung ist hier zu 94 Prozent weiss – und die Kirche steht noch im Dorf. Wallens Vater arbeitete als Pastor – seine Mutter war Lehrerin. 2024 wählten 88 Prozent Donald Trump.
Zu einem Sieg wie Trump reicht es Wallen 2014 in der sechsten Staffel von «The Voice» nicht. Er schafft es nicht einmal ins Finale – bleibt aber wegen seiner authentischen Art trotzdem hängen. Wenig später geht sein Stern in der Country-Szene auf. Und wie. Mit einem Nackenspoiler, der jedem tschechischen Eishockeyspieler in den 90ern zu Ehren gereicht hätte, erobert er die Charts. Wallens zweites und drittes Album verbringen beide über 100 Wochen in den Billboard Top-200. Damit hält er einen Rekord, an dem sich sogar Taylor Swift die Zähne ausbeisst.
Und trotz Megaerfolg bleibt er für seine Fans fassbar. Auch, weil er Fehler begeht, die einer der ihren halt so begeht: 2020 wird er gefilmt, wie er mitten in der Corona-Hochblüte entgegen den Regeln unmaskiert im Etablissement von Rüpel-Rocker Kid Rock mit mehreren Frauen schmust. Kann ja mal passieren. 2021 zeichnet ihn sein Nachbar auf, als er für einen seiner Freunde das N-Wort benutzt.
Der Aufschrei in der Musikszene ist enorm und die Strafe erfolgt auf dem Fuss: Wallens Songs werden von über 400 Radiostationen boykottiert, sein Label suspendiert seinen Vertrag und er wird aus Shows ausgeladen. Die Nackenschläge des Establishments nähren indes sein Image als volksnaher Superstar. Wallen entschuldigt sich mit einer Spende von 300’000 Dollar an die «Black Music Action Coalition» – Geld, das er mit Radiotantiemen wieder eingespielt haben dürfte.
Trotzdem nimmt man ihm die Reue ab, denn er trifft sich mit 20 afroamerikanischen Musikgrössen, um von ihnen persönlich zu erfahren, wie sie diskriminert wurden. Und er spendet weiter – über eine Million in verschiedene Programme für benachteiligte Gemeinschaften. Am Ende entpuppt sich die Kontroverse als verkaufsfördernd. In der Woche, als das belastende Video die Runde macht, steigen CD-Verkäufe und Streams phasenweise um über 100 Prozent.
Die Matte hat Morgan Wallen heute nicht mehr nötig. Sein Ruf als weisser Arbeiterkerl ist gefestigt. Und in «I’m the Problem» zementiert er ihn noch. Kein Song ohne Whiskey, kein Song ohne Herzschmerz. Immer und immer wieder Probleme. Meist mit Frauen – aber auch mit sich selbst. Damit trifft Wallen die Zeichen der Zeit. Geschickt spielt er mit der latenten Verunsicherung der weissen US-Männer und ihrer Angst vor Statusverlust. Seinem eingeschüchterten Selbst rät er beispielsweise via «Oldschool Onkel Joe», zu sein wie «Skoal, Chevy und Browning». Skoal ist eine Oraltabak-Firma, Chevy die Kurzform für die US-Automarke Chevrolet und Browning ein Waffenhersteller.
Sei wie das gute alte Amerika. Damit kommst du dann schon durch.
Ob der Rat gut ist, sei dahingestellt. Aber genau das wollen viele weisse AmerikanerInnen in den ländlichen Gebieten jetzt hören. Man kann es ihnen in diesen chaotischen Zeiten nicht vorwerfen. Überfahren vom Gesellschaftswandel, kaputt getreten vom Raubtierkapitalismus, liegengelassen von der Politik. Zu den uramerikanischen Tugenden gehört auch eine gesunde Portion Wut. Diese richtet sich bei Wallen immer wieder gegen die arroganten Städter, denen er wünscht, sie mögen doch als Redneck wiedergeboren werden («Come Back As A Redneck») um zu spüren, wie es ist: «Ich hoffe, du brichst dir den Rücken für diesen Gerade-noch-so-durchkommen-Lohn» («I hope you break your back for that barely-get-by paycheck»).
Es ist fast der plumpste Song auf dem Album, denn auch wenn der Countrystar eine einfache Sprache spricht, ist er selten einfach nur simpel. Das renommierte Magazin «The New Yorker» nannte seine Songs gar «clever» – auch wenn das Themenspektrum während 37 Songs das Dreigestirn Beziehungen, Alkohol und persönliche Probleme kaum je durchbricht.
Nach zwei Stunden ist die Lehrreise in die rurale Gefühlslage der USA vorbei. Neben ein paar eingängigen Melodien bleiben noch andere Dinge zurück: Etwas mehr Verständnis und Empathie für die sogenannt «Bedauernswerten». Aber auch Ratlosigkeit. Wie konnte die Demokratische Partei der USA nur so ignorant und arrogant sein, diese Wählerschicht jahrzehntelang so dermassen zu vernachlässigen.
Die Alternative Sanders war den mächtigen in und um die Demokratische Parteien nicht genehm.
Die einzige Hoffnung bleibt, dass man die Arbeiterklasse überzeugen, kann das ihnen der Rechtspopulismus a la Trump noch weniger bringt.
Dafür müssen die Demokraten eine glaubwürdige Alternative bieten.
Schräg ist einfach, dass die Republikaner eigentlich Schuld sind an allen Problemen der Menschen auf dem Land, sie haben den Hardcorekapitalismus gefördert, Freihandel ohne Lohnschutz inklusive Outsourcing nach China betrieben und die Steuern der Reichen gesenkt.
Sie Lügen und Betrügen. Der schlimmste ist Trump, er macht die Landbewohner noch ärmer, er will nur Geld für sich und seine reichen Freunde.
Gut beschrieben. Ich denke, das trifft die Stimmung der Menschen im ländlichen Raum. Nicht nur in den USA.