Im Gazastreifen ist es bei der Verteilung von Lebensmitteln in einem neu eingerichteten Verteilzentrum offenbar zu Chaos und Tumulten gekommen. Nach Angaben von Nachrichtenagenturen und dem israelischen Nachrichtenportal ynet mussten sich Mitarbeiter der von den USA unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) zeitweise zurückziehen. Der Andrang sei sehr gross gewesen.
Trotz der anfänglichen Unruhen will die GHF die Verteilung von Hilfsgütern fortsetzen. Die Stiftung bestätigte Berichte über die Stürmung des neuen Zentrums im Süden des Gazastreifens sowie über Plünderungen. Laut palästinensischen Angaben gab es dabei mehrere Tote und Dutzende Verletzte. Dennoch sollen nach Angaben der GHF weiterhin Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen einfahren; die Liefermengen sollen täglich zunehmen.
Nach der Eröffnung des von unzähligen hungrigen Menschen belagerten GHF-Zentrums (Gaza Humanitarian Foundation) im Süden des dicht besiedelten Gebiets war es laut israelischen Medienberichten und Augenzeugen zu chaotischen Szenen gekommen.
Israelische Medien hatten zunächst berichtet, US-Wachleute hätten Warnschüsse abgegeben, Menschen seien in Panik ausgebrochen. Später berichteten palästinensische Rettungskräfte, drei Menschen seien durch Schüsse der israelischen Armee getötet und Dutzende weitere verletzt worden.
Die israelische Armee teilte mit, Soldaten hätten ausserhalb des Zentrums Warnschüsse abgegeben. Die Situation sei wieder unter Kontrolle gebracht worden. Es sei nicht aus der Luft geschossen worden, so die Armee.
Die Stiftung teilte dazu mit, angesichts des grossen Andrangs am Verteilungszentrum in Rafah habe das GHF-Team sich punktuell zurückgezogen, «um es einer kleinen Anzahl von Gaza-Einwohnern zu erlauben, Hilfsgüter auf sichere Weise zu nehmen und sich wieder zu zerstreuen». Das Team habe sich dabei an das Sicherheitsprotokoll gehalten, um Opfer zu verhindern. Die normale Arbeit sei danach wieder aufgenommen worden.
Laut The Guardian zeigen in sozialen Medien verbreitete, bislang nicht verifizierte Aufnahmen Menschen, die in langen Schlangen zwischen Drahtzäunen auf Hilfe warten. Diese Zäune wurden später teilweise niedergerissen, als die Menschen auf ein offenes Feld eilten, wo Boxen warteten.
Einigen gelang es Berichten zufolge, Hilfskisten mit Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Mehl, Nudeln und Tahini zu erhalten, doch die meisten gingen mit leeren Händen.
Ein Zeuge, Hosni abu Amra, wartete ebenfalls auf Lebensmittel und erzählte gegenüber der Presseagentur AP:
Anschliessend seien sie geflohen, ohne etwas mitzunehmen, das ihnen helfen würde, den Hunger zu überstehen. Ein weiterer Zeuge, Ahmed abu Taha, sagte, er habe Schüsse gehört und israelische Militärflugzeuge über sich gesehen: «Es war ein Chaos. Die Menschen waren in Panik.»
Angesichts einer monatelangen Blockade von Hilfsgütern durch Israel, die zuletzt etwas gelockert worden war, hat sich die verzweifelte Lage vieler Menschen in dem umkämpften Küstenstreifen nochmals verschlimmert. In dem von rund zwei Millionen Palästinensern besiedelten Gebiet, das zu weiten Teilen zerstört ist, fehlt es an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Medikamenten und nahezu allen Dingen des täglichen Bedarfs.
Die GHF soll nach dem Willen der israelischen Regierung künftig für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig sein. Bisher seien rund 8'000 Lebensmittelpakete verteilt worden, teilte die Stiftung am Dienstag mit. Jedes Paket könne etwa fünf bis sechs Menschen für dreieinhalb Tage ernähren. Insgesamt seien es 462'000 Mahlzeiten. Allerdings sei es wegen Behinderungen durch die islamistische Hamas zu mehreren Stunden Verzögerung bei der Auslieferung gekommen.
Das Hamas-Medienbüro teilte nach dem Vorfall mit, der von Israel initiierte Mechanismus zur Verteilung von Hilfsgütern sei ein «totaler Misserfolg». Das von der Terrororganisation kontrollierte Innenministerium hatte die Einwohner des Gazastreifens zuvor dazu aufgerufen, den neuen Verteilmechanismus zu boykottieren.
Mit der von den USA unterstützten Verteilstrategie will die israelische Regierung nach eigenen Angaben verhindern, dass die Hamas Lieferungen für ihre eigenen Zwecke abzweigt und weiterverkauft, um damit dann Kämpfer und Waffen zu bezahlen. UN-Vertreter sagen, Israel habe keine Beweise dafür vorgelegt.
Die vier GHF-Verteilungszentren im Süden und im Zentrum des Gazastreifens sollen von US-Sicherheitsfirmen betrieben werden. Israel will so Hilfsorganisationen der UN und anderer internationaler Helfer umgehen.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach am Dienstagabend von einem «momentanen Kontrollverlust» bei der Verteilung der Hilfsgüter. «Wir haben es wieder unter Kontrolle gebracht», sagte er bei einer Ansprache. Man werde weitere Zentren eröffnen.
«Die Idee ist grundsätzlich, der Hamas die Plünderungen humanitärer Hilfsgüter als ein Kriegsinstrument wegzunehmen und sie der Bevölkerung zu geben», so Netanjahu. Ziel sei es, «eine sterile Zone im Süden Gazas zu haben, in der die gesamte Bevölkerung sich zu ihrem eigenen Schutz bewegen kann».
Viele Palästinenser befürchten eine neue Welle der Flucht und Vertreibung aus dem Gazastreifen, ähnlich wie während des Kriegs im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 und während des Sechstagekriegs 1967. An Israels Vorgehen in dem Küstengebiet, wo täglich Dutzende Tote infolge israelischer Angriffe gemeldet werden, gibt es international massive Kritik.
Die US-Regierung begrüsste die neu angelaufene Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen – und ging zugleich auf Abstand zur dahinter stehenden Stiftung. Man spreche nicht für die GHF, betonte die Sprecherin des Aussenministeriums, Tammy Bruce. Kritik vonseiten der Vereinten Nationen und internationaler Hilfsorganisationen, die Stiftung sei nicht unabhängig und agiere im Interesse Israels, nannte Bruce «bedauerlich». Es sei «die Höhe der Heuchelei», sich darüber zu beklagen, wer die Hilfe bringe oder wie sie organisiert sei.
Kurz vor dem Anlaufen der Hilfe war der GHF-Vorsitzende Jake Woods – ein US-Militärveteran – zurückgetreten. Berichten zufolge hielt er es nicht für möglich, den unter seiner Führung entwickelten Plan umzusetzen und gleichzeitig «die humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit» zu wahren.
Die Notlage in dem Küstengebiet hat sich im Zuge des Gaza-Kriegs seit Oktober 2023 nochmals drastisch verschärft. Ausgelöst wurde der Krieg durch das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels: Terroristen der Hamas und anderer islamistischer Gruppen töten bei einem Überfall auf den Süden des jüdischen Staates rund 1'200 Menschen und verschleppten mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen. Im Krieg wurden dann nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 54'000 Palästinenser in Gaza getötet. Die unabhängig kaum zu überprüfende Zahl fasst Kämpfer und Zivilisten zusammen.
Die Angehörigen der noch immer in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln erinnern an diesem Mittwoch daran, dass sich ihre Liebsten schon seit 600 Tagen in der Gewalt der Hamas befinden. Nach israelischen Angaben befinden sich derzeit noch mindestens 20 lebende Geiseln im Gazastreifen. Bei drei weiteren Entführten ist unklar, ob sie noch am Leben sind. Zudem befinden sich die sterblichen Überreste von 35 Verschleppten in dem abgeriegelten Gebiet mit unzähligen unterirdischen Tunnelanlagen. (les/sda/dpa)