International
Review

Putins Angriff auf die Ukraine und der Vietnamkrieg: die Parallelen

Saigon 1975
Amerikanischer Abzug aus Saigon, 1975: Ein CIA-Mann evakuiert Zivilistinnen und Zivilisten.
Review

Putins Angriff auf die Ukraine und der Vietnamkrieg: Warum es unheilvolle Parallelen gibt

Der französische Starautor Eric Vuillard widmet dem dreissigjährigen Krieg in Indochina ein brisantes Buch. Die Frage stellt sich: Verhielten sich Franzosen und Amerikaner nicht besser als Russland?
04.03.2023, 16:31
Julian Schütt / ch media
Mehr «International»

Die Brisanz seines neuen Buches «Ein ehrenhafter Abgang» konnte nicht einmal der Autor Eric Vuillard selber erkennen, als er es im Januar vor einem Jahr in Frankreich veröffentlichte. Er wollte eine Auseinandersetzung mit dem vergessenen Krieg in Indochina zwischen 1946 und 1954 und dem anschliessenden Vietnamkrieg zwischen 1955 und 1975 liefern.

Eigentlich war es ein neuer Dreissigjähriger Krieg im 20. Jahrhundert. Frankreich und die Supermacht USA standen dem kleinen Vietnam und seinen Nachbarländern gegenüber.

Frankreich setzte im Indochina-Krieg schon massiv Napalm ein

1945 hatte der vietnamesische Premierminister Ho Chi Minh die Unabhängigkeit seines Landes proklamiert und sich dabei auf die französische Erklärung der Menschenrechte gestützt. Doch die Kolonialmacht Frankreich und später die Vereinigten Staaten wollten die Unabhängigkeit und den Vormarsch der Kommunisten mit allen Mitteln verhindern. Als eine der ersten Armeen brachten die französischen Truppen bei ihren Bombardierungen auch massiv Napalm zum Einsatz.

Vuillard erzählt brisante Zeitgeschichte ohne Erfindung.
Vuillard erzählt brisante Zeitgeschichte ohne Erfindung.

Bei aller Vorsicht, die historische Vergleiche stets erfordern, drängen sich heute Parallelen zur Grossmacht Russland und ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine auf. Doch wie Putins Russland führte sich Frankreich vor siebzig Jahren in Indochina auf, plünderte und folterte und mordete, ohne dass sich die Bevölkerung in der Heimat gross darüber aufregte. Die meisten Soldaten waren keine Franzosen, sondern kamen aus Kolonialbataillons.

Eric Vuillard arbeitet die kolonialen und geopolitischen Interessen heraus

An diesen Krieg in Indochina erinnert Eric Vuillard. Sein Markenzeichen sind historische Erzählungen, die sich wie Romane lesen, obwohl nichts darin erfunden ist. Der 54-jährige Franzose greift auf historisches Quellenmaterial zurück und spitzt entscheidende Konstellationen der Zeitgeschichte pointiert zu. Im Buch «Die Tagesordnung», für das er 2017 den Prix Goncourt erhielt, ging es etwa um den Aufstieg der nationalsozialistischen Macht in den Dreissigerjahren.

Das neue Werk «Ein ehrenhafter Abgang» exponiert Schlüsselmomente im Indochina- und Vietnamkrieg, arbeitet die kolonialen und geopolitischen Machtinteressen heraus, erzählt von Karrieristen und Profiteuren und zeigt die Blutspur, die Franzosen und Amerikaner in der Region zurückgelassen haben.

Selbst der erhoffte ehrenvolle Abzug misslang gewaltig

Vuillard besitzt ein Näschen für entlarvende Zitate und Bilder, die mehr aussagen als lange historische Exkurse. So erwähnt er einen französischen Minister, der blank und frei zugab: «Wenn wir den Kolonialvölkern die gleichen Rechte zugestünden, wären wir die Kolonie unserer Kolonien.»

Wie jetzt Putins Russland in der Ukraine versuchte Frankreich, mit möglichst geringem militärischem Aufwand viel aus Indochina herauszuholen. Doch der Imperialismus der Grande Nation verschlang Geld. Es zeichnete sich immer schmerzlicher ab, dass wesentlich mehr französische Truppen nötig gewesen wären, um die vietnamesischen Kommunisten, die Viêt Minh, entscheidend zurückzudrängen.

Goncourt-Preisträger: der 54-jährige Eric Vuillard. (Bild: Jean-Luc Bertini, CC BY-SA 4.0)
Goncourt-Preisträger: der 54-jährige Eric Vuillard.Bild: Wikimedia Commons, Jean-Luc Bertini, CC BY-SA 4.0

Irgendwann ging es nur noch darum, einen, wie der Titel von Vuillards Erzählung besagt, «ehrenhaften Abgang» zu schaffen. Er misslang gewaltig. Ebenso scheiterten die Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg. Auch sie mussten 1975 fluchtartig das Land verlassen. Bekannt aus Filmen und Berichten ist, wie Helikopter mit zwei Propellertürmen, sogenannte «Chinooks», über der amerikanischen Botschaft kreisten und die letzten Westler evakuierten. Saigon war von den Viêt Minh eingekesselt.

Vier Millionen Bomben forderten drei Millionen Tote in Vietnam

Wenn Eric Vuillard von diesen dramatischen Ereignissen erzählt, fügt er wirksam ein paar Zahlen ein: In den insgesamt dreissig Jahren gingen auf das kleine Vietnam vier Millionen Bomben nieder, mehr Bomben, als die alliierten Mächte an sämtlichen Fronten des Zweiten Weltkriegs abwarfen. Auf Seiten Frankreichs und der Vereinigten Staaten gab es vierhunderttausend Tote. Auf vietnamesischer Seite waren mindestens drei Millionen Tote zu beklagen. Das Zehnfache.

Sind die Franzosen und Amerikaner von damals tatsächlich mit Putin und seinen Truppen von heute vergleichbar?

Was die grausame Kriegsführung und das imperialistische Gehabe angeht, durchaus.

Allerdings gab es in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten lautstarke Proteste und Anti-Kriegs-Demonstrationen. Der französische Literaturnobelpreisträger François Mauriac prangerte die Besatzung und Kriegsverbrechen an, auch wenn er danach von vielen Landsleuten geächtet wurde.

Die USA wollten den Franzosen zwei Atombomben schenken

Die Vereinigten Staaten unterstützten die Franzosen seit den frühen Fünfzigerjahren und übernahmen einen Grossteil der Kriegskosten, so wie die Chinesen die kommunistischen Viêt Minh unterstützten. Eric Vuillard verschweigt nicht, dass der republikanische US-Aussenminister John Foster Dulles Frankreich im April 1954 sogar zwei Atombomben anbot.

Damit sollte sich die drohende Niederlage in der Dschungelfestung Dien Bien Phu und das Ende der fast hundertjährigen französischen Kolonialherrschaft in Indochina doch noch abwenden lassen. Frankreich lehnte das monströse amerikanische Geschenk ab.

Woher Sahra Wagenknechts Antiamerikanismus kommt

Für die Kalten Krieger wurde im heiss ausgetragenen Vietnamkrieg die freie Welt verteidigt. Bei den immer zahlreicheren Gegnern in den USA wie in Europa beförderte dieser Krieg mit seinen Massakern an der Zivilbevölkerung jedoch einen pauschalen Antiamerikanismus, den Friedensbewegte noch heute wie Peace-Symbole mit sich tragen.

Gerade die neue deutsche Friedensfee Sahra Wagenknecht pflegt notorisch das antiamerikanische Ressentiment. Für sie ist der US-Präsident Biden «genauso kompromisslos» wie Putin. Unentwegt verbreitet sie die Legende, es sei die Schuld des Westens und also vor allem der USA, dass der Krieg in der Ukraine kein Ende findet.

Anders als jetzt in Russland gab es in den USA Opposition gegen den Krieg

Verfolgt man den antiamerikanischen Diskurs genauer, landet man unweigerlich beim Vietnamkrieg. Seltsamerweise ist aber die französische Hauptschuld am ersten Indochina-Krieg kaum je ein Thema. Und deshalb ist es nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in Frankreich weit verbreitet, auf der Klaviatur des Antiamerikanismus zu spielen.

Dabei geht vieles unter: Anders als in Putins Diktatur gab es in den USA immer Widerstand gegen den Vietnamkrieg, nicht nur von Studierenden oder Kulturleuten, auch von politischer und höchster juristischer Seite. So entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Pentagon-Papers 1971 zum Teil veröffentlicht werden mussten.

Die Öffentlichkeit erfuhr von den versteckten militärischen Bombardierungen in Kambodscha oder Laos und von den Lügengebilden, mit denen verschiedene Administrationen bis hin zu Richard Nixon und Henry Kissinger systematisch die Wahrheit über den Krieg in Indochina verschwiegen. Die Publikation der Pentagon-Papers beschleunigte dann den Abzug der amerikanischen Truppen.

Eric Vuillard mag manchmal eine etwas holzschnittartige Geschichtsschreibung betreiben, mit mächtigen und ohnmächtigen, guten und schlechten Menschen, doch er erzählt insofern differenziert, als er auch die Limiten seiner faktenbasierten Literatur offenlegt: Die entsetzlichsten Verlautbarungen von Kriegstreibern wie Dulles, Nixon, Kissinger oder Putin finden in gut geschützten und abgedichteten Büros und Bunkern statt. Kein Autor, wie Eric Vuillard beklagt, kann deren Kriegsgedanken je unverstellt in ihrer wahren Skrupellosigkeit verfolgen oder nachträglich rekonstruieren.

Eric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Aus dem Französischen von Nicola Denies. Verlag Matthes & Seitz Berlin, 142 Seiten.

(aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Ukraine veranstaltet «Militärparade» und trollt Putin
1 / 14
Ukraine veranstaltet «Militärparade» und trollt Putin
Als die Russen im Februar 2022 die Ukraine überfielen, planten sie, wenige Tage später im Zentrum Kiews eine Parade abzuhalten. Doch es kam anders ...
quelle: keystone / roman pilipey
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Klitschko bedankt sich bei Deutschland für die «Katzen»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
43 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Gandalf-der-Blaue
04.03.2023 16:54registriert Januar 2014
Clausewitz' Zitat, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, hat leider auch heute seine Gültigkeit. Dass der Westen den Krieg als nicht mehr hinnehmbar wahrnimmt ist wichtig und richtig. Dass Herrscher wie Putin dennoch Kriege vom Zaun brechen können zeigt, dass die Welt noch immer dominiert wird von einer anderen Denkweise. Es ist an uns, stets die Werte der Freiheit und des Friedens zu pflegen. Selbst wenn dies heisst, die Ukraine bei ihrem selbstbestimmten Kampf gegen diesen unsäglichen Diktator zu unterstützen. Denn Pazifismus heisst nicht, zu schweigen, sondern zu tun.
7811
Melden
Zum Kommentar
avatar
Humanist
04.03.2023 17:00registriert Februar 2023
Dass in Dien Bin Phu die Fremdenlegion stationiert war und die Truppen dort vornehmlich aus ehemaligen deutschen Waffen-SS Einheiten bestand wird wohl auch dazu beigetragen haben nicht zum äussersten Mittel zu greifen.

Dass die Amis dann meinten es besser zu können als die Franzosen, geschenkt.

Und das grösste Verbrechen war nicht Napalm, sondern Agent Orange, unter dem die Bevölkerung bis heute in Form von missgebildeten Kindern leidet.
Napalm war zu der Zeit auch nicht geächtet. Auf YouTube findet man Aufnahmen von Übungsabwürfen der Schweizer Luftwaffe im Mittelland aus der Zeit.
475
Melden
Zum Kommentar
avatar
maylander
04.03.2023 18:05registriert September 2018
Vietnam ist komplizierter. Nach der Niederlage gegen Deutschland 1940 übernahmen die Japaner Vietnam. Das heisst Japanische Militärs kontrollierten die französische Kolonialmacht, die wiederum Vietnam kontrollierte.
1945 als die Niederlage absehbar war, entwaffneten die Japaner die Franzosen und entlliessen die Vietnamesen in eine Art Unabhängigkeit. Die Franzosen wollten ihr im zweiten Weltkrieg verlorenen Kolonii wieder zury haben.
Der Unabhängigkeitskrieg und der zweite Weltkrieg überlagerte sich. Und die Geopolitik tat ihr übriges dazu.
344
Melden
Zum Kommentar
43
Haitis Premierminister zurückgetreten – Übergangsrat vereidigt

Nach der Amtseinführung eines Übergangs-Präsidialrats im Krisenstaat Haiti ist der bisherige Interims-Premierminister Ariel Henry zurückgetreten.

Zur Story