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«Wenn unsere Gegenoffensive nicht bald startet, ist Bachmut verloren»

«Wenn unsere Gegenoffensive nicht bald startet, ist Bachmut verloren»

Die Russen rücken vor, ukrainische Militärs schlagen Alarm: Kriegsreporter Kurt Pelda berichtet aus der grössten und blutigsten Schlacht dieses Krieges.
17.04.2023, 07:5417.04.2023, 07:54
Kurt Pelda, Tschasiw Jar / ch media
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Die Gegend gleicht einem Heerlager. In jedem noch so kleinen Wäldchen sieht man Fahrzeuge oder Geschütze der ukrainischen Armee, zum Teil unter Tarnnetzen versteckt. Der Frühling hat eben erst begonnen, und noch bilden die hellgrünen Blättchen an den Bäumen kein Laubdach, unter dem man sich vor den Kameras der Aufklärungsdrohnen verbergen könnte. Einzig die Aprikosenbäume sind in voller Blüte, ein fast grotesk wirkendes Lebenszeichen inmitten dieser Felder des Todes.

March 21, 2023, Bakhmut, Donetsk Region, Ukraine: Artillerymen from the 24th assault battalion Aidar shooting from 122 mm howitzer D-30 into Russian positions near Bakhmut, Donetsk region, Ukraine. Uk ...
Ukrainische Soldaten schiessen mit einer Haubitze auf russische Stellungen in der Nähe von Bachmut. (Aufnahme vom 21. März) Bild: imago/Mykhaylo Palinchak

In einem Weiler stehen mehrere ukrainische Kampfpanzer in den Gärten von Häusern mit Giebeldächern aus Asbest. Die meisten Behausungen sind verlassen, zu sehen sind nur vereinzelte Zivilisten, die dem ständigen Artilleriefeuer zum Trotz ausharren. Ganz am Rand des Weilers haben Soldaten einen erbeuteten russischen T-62-Kampfpanzer geparkt.

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Dieser Typ wurde in der Sowjetunion zwischen 1962 und 1975 hergestellt. Die Ukrainer haben das Wort «Satan» in kyrillischen Buchstaben auf das Museumsstück gemalt, mit dem sie nun gegen die Invasoren bei der Stadt Bachmut kämpfen - in der bisher grössten und blutigsten Schlacht dieses Kriegs.

Gefechtslärm bis tief in die Nacht

Wir fahren an einem sogenannten Stabilisierungsposten vorbei. Das ist ein kleines Feldlazarett, wo man Verwundete notdürftig versorgt, bevor sie in ein grösseres Spital transportiert werden. Vor dem Posten sind einige Lieferwagen geparkt, die als improvisierte Ambulanzen dienen. Eines der Fahrzeuge hat ein Graubündner Kennzeichen.

A Russian T-62 main battle tank rest in an armor junkyard in Kunduz, Afghanistan. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: TerryxMoore/StocktrekxImages TMO100356M

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Eigentlich ein Museumsstück: ein sowjetischer t-62-Panzer auf einer Archivaufnahme.Bild: imago stock&people

Auf einer Piste fahren wir weiter, etwa vier Kilometer von der Front bei Bachmut entfernt. Der Gefechtslärm rund um die kleine ostukrainische Stadt ist ohrenbetäubend. An diesem Tag vergehen selten mehr als 5 Sekunden von einer Detonation zur nächsten. Auf die Einschläge russischer Granaten und Raketen reagieren die Ukrainer mit ihren Geschützen und Granatwerfern.

Auch amerikanische Panzerhaubitzen des Typs M109 mischen mit. Sie wechseln die Stellung häufig, um es den Russen zu erschweren, ihre Position ausfindig zu machen. Manchmal sind selbst die Fluggeräusche der Granaten hoch oben am Himmel zu hören. Wenn russische Batterien mit Mehrfachraketenwerfern feuern, erfolgen die Einschläge so rasch nacheinander, dass man die einzelnen Explosionen kaum noch unterscheiden kann. Es ist wie ein mächtiges Gewitter, ein Grollen, das bis tief in die Nacht andauert.

Die Probleme der ukrainischen Armee

Ein Militär, den ich im Februar 2022 in den ersten Kriegstagen kennengelernt habe, erzählt von den Problemen der ukrainischen Armee bei Bachmut. Oleksandr, wie ich ihn zu seinem Schutz nenne, ist schon länger in der Gegend stationiert und kennt sich aus. «Die Russen beklagen sich, wenn sie pro Geschützrohr und Tag nur 60 Granaten erhalten. Bei uns sind es dagegen oft nur zehn Granaten.»

Die Lage rund um Bachmut
Bild: OSM, Lizenz Odbl

In Bachmut würden die russischen Wagner-Söldner jedes von Ukrainern gehaltene Gebäude systematisch zerstören, meistens mit Artillerie, manchmal komme aber auch die russische Luftwaffe und werfe schwere Fliegerbomben ab. Ganze ukrainische Stellungen würden so aufs Mal ausgelöscht.

«Unsere Verluste sind erklecklich. Aber die Armeeführung hofft, dass sie die Wagner-Truppe in Bachmut bindet und dezimiert, damit die Russen die Söldner nicht an anderen Frontabschnitten einsetzen können. Wenn unsere Gegenoffensive nicht bald startet, ist Bachmut verloren.»

Befestigungen auf beiden Seiten der Front

Bachmut ist auf drei Seiten von Wagner-Söldnern und russischen Luftlandetruppen eingekreist. In den letzten Wochen konnten die Russen langsam, aber stetig vorrücken. Das Stadtzentrum und den Bahnhof haben sie inzwischen erobert, während sich die Ukrainer im westlichen Teil hinter der Eisenbahnlinie verschanzen.

Die Russen kontrollieren nun schätzungsweise bis zu 80 Prozent des Stadtgebiets. Zwei Strassen führen von Westen her nach Bachmut, doch verlaufen beide Nachschubrouten nahe der Front und werden von den Russen mit Artillerie beschossen. Zum Teil müssen die Ukrainer im Zickzack über offenes Feld fahren, um Verstärkungen und Munition in die Stadt zu bringen oder um Verwundete zu evakuieren.

Knapp sieben Kilometer westlich des Stadtrands von Bachmut liegt die nächste grössere Ortschaft, Tschasiw Jar, auf einem Hügel. Dazwischen verläuft von Norden nach Süden ein Kanal, der noch in der Sowjetzeit für die Trinkwasserversorgung des Donbass errichtet wurde.

An seinem westlichen Ufer haben die Ukrainer bereits umfangreiche Verteidigungsstellungen angelegt - für den Fall, dass Bachmut ganz in die Hände der Russen fällt. Die Äcker im Donbass rund um Bachmut sind mit Schützengräben durchzogen, es sind in die Tiefe gestaffelte Stellungen mit Betonbunkern und so genannten Drachenzähnen, etwa hüfthohen Betonpyramiden, die als Panzersperren verwendet werden. Mancherorts kommen Minenfelder dazu.

Russland baut Befestigungen an der Krim auf

Die ukrainischen Drachenzähne gleichen jenen aufs Haar, die Moskaus Armee massenhaft verbaut hat, um ihre Eroberungen abzusichern. In den letzten Monaten haben die Russen hinter der rund 800 Kilometer langen Front ebenfalls gestaffelte Befestigungen errichtet, vor allem auch im Süden und am Zugang zur Halbinsel Krim, wo Russlands Armeeführung wohl am ehesten eine ukrainische Gegenoffensive erwartet.

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Russische Drachenzähne in der Nähe von Bachmut. (Aufnahme vom 24. März)Bild: www.imago-images.de

Über den Kanal, der Bachmut vom westlichen Hinterland abtrennt, führen in der Nähe von Tschasiw Jar einige Brücken. Die wichtigste davon sprengten die Ukrainer, als die Russen von Süden nach Tschasiw Jar vorzudringen versuchten.

Der Angriff wurde zwar abgewehrt, aber nachher fehlte Kiews Armee dieser wichtige Übergang für die Versorgung von Bachmut. «Inzwischen haben unsere technischen Truppen einen behelfsmässigen Übergang gebaut», erzählt Militär Oleksandr, «wir können die Strasse also wieder teilweise benützen.»

Einen Steinwurf vom Kanal entfernt wohnt Tatjana Welikolug. Ihre Eltern kamen noch während der Sowjetzeit aus der Westukraine hierher, ihre Mutter stammte dagegen aus Russland. Das Paar kam nach Tschasiv Jar, um beim Bau des Kanals mitzuhelfen. Später arbeitete Tatjana 40 Jahre lang als Labortechnikerin für die Trinkwasserversorgung von Bachmut. Doch die verstärkten russischen Angriffe zwangen die Firma im letzten Herbst zur Aufgabe – und Tatjana zur Flucht nach Tschasiw Jar.

Grosse Widerstandskraft

In der nur ein paar Kilometer entfernten Nachbarstadt vertrauten Verwandte und Bekannte der 64-Jährigen dann 20 Katzen und 8 Hunde an, bevor sie wegen des näher rückenden Kriegs das Weite suchten. Diese Tiere konnte Tatjana an freiwillige Helfer in ukrainischen Grossstädten weiterleiten.

Donetsk Region, Ukraine: Ukrainian soldiers man frontline defensive positions as Russian Forces attempt to advance in the Donbas Region of Ukraine. Two Ukrainian soldiers rest on their bunk in an unde ...
Ukrainische Soldaten in der Nähe von Bachmut, aufgenommen am 16. März.Bild: www.imago-images.de

Mit dem zunehmenden russischen Artilleriebeschuss brachen neben der Wasserversorgung auch in Tschasiw Jar das Strom- und Gasnetz zusammen – und damit auch die Mobilkommunikation. Nun wurde es für Tatjana immer schwieriger, herumstreunende Haustiere einzufangen und an Hilfswillige in anderen, friedlicheren Städten zu vermitteln.

Heute leben nur noch etwa 200 Zivilisten in der Stadt, die früher etwa 12'000 Einwohner hatte. Manche von ihnen gaben ihre Haustiere Tatjana, die sich schon um zwei eigene Hunde kümmerte. So schoss die Zahl der Hunde, die jetzt in Tatjanas kleinem Haus und Garten herumtollen auf 20. Hinzu kommen noch zwei Katzen.

Einige der Tiere sind wegen des Granatbeschusses traumatisiert, verstecken sich unter dem Esstisch oder blicken draussen ängstlich zum Himmel. Nur ein kleiner stämmiger Rüde mit erblindeten Augen tappt unverdrossen durch die Gegend. Zwei grosse Hunde stammen aus Bachmut.

Das Futter bewahrt Tatjana im Garten in leeren Munitionskisten auf. Sie kocht Getreidemehl auf einem Herd, den sie mit Fallholz und zunehmend auch Brettern aus Häuserruinen heizt. Um Maiskörner zu zerkleinern, hat sie sich eine elektrische Mühle beschafft.

«Und weil es keinen Strom gibt, habe ich mir zum Weltfrauentag am 8. März einen Generator geschenkt, mit dem ich die Mühle betreiben kann», erzählt die Frau lachend, während eine Strasse weiter ein britischer Kettenpanzer vorbeirasselt. Die psychische Widerstandskraft der 64-Jährigen wirkt ungebrochen.

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26 Kommentare
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Tony D
17.04.2023 09:24registriert Juni 2018
Ich hoffe die Ukrainer sparen die Munition für den Gegenagriff. Ansonsten sind 6 zu 1 Munition extrem viel, da muss was kommen aus dem Westen, und da zähle ich die Schweiz dazu!
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Hösch
17.04.2023 09:33registriert März 2022
Erklecklich dürfte kaum die passende Übersetzung sein für die ukrainischen Verluste. Beachtlich, signifikant, wasauchimmer aber doch nicht erklecklich.
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arivle
17.04.2023 09:43registriert September 2021
Bitte noch mehr Augenzeugen-Berichte von Kurt Pelda, damit die Schweizer begreifen, was ein Krieg ist!
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