Als Wladimir Putin vergangenen Herbst eine «Teilmobilisierung» ankündigte, löste das einen regelrechten Exodus aus. Besonders wehrpflichtige Männer verliessen Russland Hals über Kopf - die Bilder kilometerlanger Staus an den Grenzen zu Nachbarländern wie Finnland oder Georgien machten weltweit Schlagzeilen.
Die Staus haben seither nachgelassen. Nicht zuletzt, weil Länder wie Finnland die Einreise für Russen nahezu verunmöglicht haben. Der Exodus geht aber dennoch weiter, wie Anna berichtet. Anna heisst eigentlich anders, möchte aber aus Angst vor Repressalien nur mit Pseudonym genannt werden.
Die junge Russin hat vergangenen Sommer in St. Petersburg ihr Bachelor-Studium in Politologie abgeschlossen und sagt: «Die meisten meiner Freunde haben Russland bereits verlassen oder sind dabei, es zu tun.» Auch Anna selbst versucht gerade, Russland in Richtung Westeuropa zu verlassen und dort ein neues Leben zu beginnen.
Die Stimmung in Russland sei sehr düster, berichtet Anna. Es sei fast wie am Höhepunkt der Pandemie, mit leeren Strassen und leeren Geschäften. Und doch gebe es Unterschiede: «Es gibt hier kaum noch internationale Geschäfte, und auf den Strassen sind viel mehr Frauen unterwegs, weil die Männer Angst davor haben, willkürlich eingezogen zu werden.»
Gemäss verschiedenen Schätzungen haben seit Kriegsbeginn bis zu einer Million Russinnen und Russen ihre Heimat verlassen, also etwas weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: Die Ukraine haben im gleichen Zeitraum ungefähr acht Millionen Menschen verlassen, also ein Fünftel der Bevölkerung.
Die meisten Ausreisewilligen sind jung und hoch qualifiziert. Für den Krieg seien fast nur die Älteren, sagt Anna: «Der Rest schweigt aus Angst oder ist schlicht viel zu sehr mit dem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt, um sich über Politik den Kopf zu zerbrechen.»
Die Zahlen zur Auswanderung sind trügerisch. Denn: die Ausreise ist seit Kriegsbeginn deutlich schwieriger geworden. Das hat auch Anna zu spüren bekommen. Für ihre Reisedokumente musste sie einen regelrechten bürokratischen Hürdenlauf bei ausländischen Botschaften auf sich nehmen.
Doch das sei nicht das einzige Problem. Man kann heute aus Russland in viel weniger Länder reisen als vor dem Krieg - bei gleicher oder sogar noch höherer Nachfrage nach entsprechenden Tickets. Die Folge, so Anna: «Die Preise sind extrem gestiegen. Viele können sich das einfach nicht leisten.» Hinzu kommt ausserdem die Schwierigkeit, die Zahlung technisch abzuwickeln, denn das russische Bankensystem ist kaum noch mit dem internationalen verbunden.
Die Zahl in Russland ist damit sowohl relativ als auch absolut geringer als in der kriegsversehrten Ukraine. Die Vermutung liegt aber nahe, dass noch mehr Menschen Russland verlassen hätten, wenn die Ausreise nicht so schwierig wäre.
Besonders stark von der Abwanderung betroffen ist die russische IT-Branche. Laut offiziellen Statistiken haben im vergangenen Jahr über 100 000 IT-Fachleute Russland verlassen. Das entspricht etwa 10 Prozent aller IT-Fachleute in ganz Russland.
Der IT-Arbeitsmarkt ist so ausgetrocknet, dass sich die Regierung im März zum Handeln gezwungen sah. Die Anforderungen für die Erlangung einer Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung wurden dauerhaft gesenkt, wie eine Sprecherin des Innenministeriums Mitte März erklärte.
Obwohl also die Jobaussichten für Anna, die seit dem Abschluss ihres Bachelor-Studiums im Personalwesen einer IT-Firma tätig ist, kaum besser sein könnten, kann sie es sich nicht vorstellen, in Russland zu bleiben. Eigentlich habe sie nicht vorgehabt, Russland dauerhaft zu verlassen. Sie wolle aber längerfristig beruflich mit Politik zu tun haben, beispielsweise in einer Stadtverwaltung arbeiten. «Unter den derzeitigen Umständen ist das für mich unvorstellbar.»
Die Risiken sind aber auch enorm für eine Gesellschaft, die konträr zur russischen Ideologie steht. Man weiss nicht was die Leute wirklich denken. Muss jedes Land selber wissen.