Am 15. März 2022 wurde Alexej Nawalny in der Strafkolonie Nr. 2 in der Stadt Pokrow in der russischen Oblast Wladimir erneut vor Gericht gestellt. Ihm wird vorgeworfen, einen Teil der Spenden für seine Anti-Korruptions-Stiftung (FBK), für «persönliche Zwecke» veruntreut zu haben. In diesem Zusammenhang wurden vier Personen als Opfer genannt. Zudem soll er die Richterin Vera Akimova während eines Verleumdungsprozesses im Februar letzten Jahres beleidigt haben. Die Staatsanwaltschaft beantragte 13 Jahre Haft in einer Hochsicherheitskolonie.
Während der Verhandlung habe Nawalny zwei emotionale Plädoyers gehalten: eines während der mündlichen Verhandlung und ein weiteres während seines Schlussplädoyers. Dabei lobte er den Anti-Kriegs-Protest von Marina Owsjannikowa im TV und sprach über den «wilden» Krieg.
The second to last court session in the trial of Alexei Navalny has started. After the oral hearings, Alexei will be given the last word, and verdict will be announced during the next (and final) session. pic.twitter.com/wnl0qdsW1m
— Maria Pevchikh (@pevchikh) March 15, 2022
Die russischen Onlineportale «The Insider» und «Mediazona» berichteten live über den Prozess. Allerdings soll die Übertragung im Gerichtssaal wiederholt unterbrochen worden sein, sodass die Journalisten nicht alles hören konnten, was gesagt wurde.
Die unabhängigen Portale schreiben, dass Nawalny den Korruptionsfall als «erfunden» bezeichnet habe. Und auch bezüglich der Beleidigung der Richterin Akimova soll er sich nicht entschuldigt haben – im Gegenteil: Akimova sei «eine unprofessionelle Richterin und eine dumme Frau im Allgemeinen», soll Nawalny gesagt haben.
Im ersten Plädoyer soll Nawalny die Richter und das Justizsystem direkt angesprochen und an deren Gewissen appelliert haben. Im Folgenden Auszüge aus diesem Vortrag, wie sie von «The Insider» und «Mediazona» aufgezeichnet wurden:
«Ich hasse Ihre Behörde und verachte Ihr Justizsystem. (...) Ist es nicht erniedrigend für Sie, so zu tun, als wären Sie Richter und Staatsanwälte, während Sie in Wirklichkeit nur Rädchen sind, deren einziger Zweck darin besteht, etwas zu wiederholen, was man Ihnen am Telefon gesagt hat?»
Dann kam Nawalny auf den Protest von Owsjannikowa zu sprechen:
«Wenn Sie glauben, dass ich Angst bekomme oder dass Sie alle Menschen in Russland erschrecken können, dann sind es Menschen wie die wunderbare Marina Owsjannikowa, die ihnen das Gegenteil beweisen. Sie hat ein Video aufgenommen und uns die wichtigsten Worte überhaupt gesagt: ‹Handeln Sie jetzt.›» Und er ergänzte: «Ihr könnt nicht jeden einsperren.»
Im Schlusswort soll Nawalny den laufenden Krieg kritisiert haben. Im Folgenden Auszüge aus diesem Vortrag, wie sie von «The Insider» und «Mediazona» aufgezeichnet wurden:
«Was diesen Prozess anbelangt, so war er ein ganz besonderer – er unterschied sich deutlich von allen anderen. (...) Der Unterschied besteht darin, dass – das lässt sich nicht leugnen – dieser Fall niemanden interessierte. Natürlich ist er vor dem Hintergrund eines Krieges weniger interessant.»
«(...) Aber kein europäisches Land ist vergleichbar mit unserem Land, das vor sich hin dümpelt. (...) Seit 2013 ist das Einkommen der Menschen gesunken und gesunken. Das einzige, was zugenommen hat, ist die Zahl der Milliardäre. Alle werden ärmer, und die tausend Putin-Familien, die das ganze Geld eingesackt haben, haben mit einem Krieg geantwortet.»
«(...) Dass die Folge dieses Krieges ein Zusammenbruch, der Zusammenbruch unseres Landes sein wird, das klingt ein bisschen wild. Aber der Ausdruck ‹Russisch-Ukrainischer Krieg› klingt auch ziemlich wild. (...) Sie (die Oligarchen, Anmerkung watson) sind nur eine Gruppe kranker, verrückter alter Männer. Sie haben kein Mitgefühl für irgendjemanden oder irgendetwas. Und unser Land ist das allerletzte, was sie interessiert. Ihr einziges Vaterland sind ihre Schweizer Bankkonten. Und was immer sie über Patriotismus sagen, ist ein Mythos – und eine enorme Bedrohung für uns alle. Es ist eigentlich klar, was wir tun müssen. Es ist jetzt die Pflicht eines jeden, sich dem Krieg zu widersetzen.»
«Es ist viel besser, ein freier, göttlicher Mensch zu sein als einer von Putins Lakaien, der in der Hölle von Dämonen verschlungen werden wird.»
Nach diesen Ausführungen wurden noch wenige Sätze aufgezeichnet, bevor die Übertragung definitiv abgebrochen sei.
Nawalnys Team sprach von einem neuen Beweis für die Justizwillkür in Russland: «Wir haben gesagt, dass Putin Nawalny für immer im Gefängnis halten will», sagte die Sprecherin des Oppositionellen, Kira Jarmysch.
Maria Pewschich von Nawalnys Organisation FBK wiederholte den Vorwurf eines vom Kreml abgekarteten Spiels, da die Richterin im Vorfeld des Prozesses sieben Anrufe von der «Administration des Präsidenten» bekommen habe:
Today we've just published an investigation into the circumstances surrounding the farcical trial of Alexei Navalny. Phone billing data of judge Margarita Kotova shows that she's received a total of 7 calls from the President's Administration right during the court sessions.
— Maria Pevchikh (@pevchikh) March 15, 2022
Der ehemalige FBK-Mitarbeiter, Fedor Gorozhanko, soll die Anklage gegen Nawalny während des Prozesses als «absurd» bezeichnet haben.
Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch schrieb auf Twitter, Putin räche sich mit dem Verfahren, «nachdem es ihm nicht gelungen ist, ihn zu töten». Nawalny hatte einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok im August 2020 nur knapp überlebt. Der Präsident wies eine Beteiligung zurück. Die EU hatte wegen des Attentats Sanktionen gegen Russland verhängt.
Nawalny war nach seiner Genesung in Deutschland vor einem Jahr nach Russland zurückgekehrt. Er wurde am 17. Januar 2021 noch am Flughafen in Moskau festgenommen, weil er gegen Auflagen in einem anderen Strafverfahren während seiner Genesung verstossen haben soll.
Das Urteil wird am 22. März verkündet.
(yam, mit Material der sda)