Ein gelber, fast voller Mond hängt über dem Park im Stadtzentrum von Kiew. Vor ein paar Büschen spielt eine Band «Riders on the Storm» von «The Doors». Vor den vier bereits angegrauten Musikern tanzen ein paar junge Frauen, und auf den Parkbänken lassen sich rund ein Dutzend Zuschauer von den Klängen verzaubern. Unter ihnen hat es auch ein paar Obdachlose.
Rund um den Park sitzen die Menschen auf Veranden von Restaurants und Bars. Hier kommt die Musik aus der Konserve, es herrscht eine friedliche und harmonische Stimmung. Um 22 Uhr schliessen die meisten Lokale, damit den Angestellten genügend Zeit bleibt, bis um Mitternacht, dem Beginn der Ausgangssperre, nach Hause zu fahren. Ein junges Pärchen geht mit einem neugierigen Dalmatiner Gassi. Später sind kaum noch Autos auf den Strassen unterwegs. Ruhe legt sich über die Millionenstadt.
Alles scheint zu schlafen, bis Explosionen und das Stakkato von Flugabwehrkanonen zu hören ist. Es beginnt eine Schlacht am Himmel. Russische Marschflugkörper und Drohnen überfliegen die Stadt. Die ukrainische Luftverteidigung gibt ihr Bestes, um die Flugkörper abzuschiessen, bevor sie ihr Ziel erreichen. Immer wenn eine Lenkwaffe getroffen wird, gibt es einen riesigen Knall und einen Feuerball. Das Spektakel dauert gefühlt etwa eine Viertelstunde, bevor der Kampflärm abschwillt und die Menschen wieder schlafen können.
Erst am Morgen wird klar, was genau geschehen ist. Die Streitkräfte melden den Abschuss von insgesamt 28 russischen Marschflugkörpern, die Russland in der Nacht auf Kiew, Odessa und andere Regionen abgeschossen hat. Das entspricht einer Trefferquote von 100 Prozent. Von 16 iranischen Schahid-Drohnen seien 15 vom Himmel geholt worden. Unabhängig nachprüfen lässt sich das nicht, aber zumindest in Kiew scheint es keine Explosionen am Boden gegeben zu haben. Dafür töteten herabstürzende Raketentrümmer laut Medienberichten zwei Personen.
Kiew ist durch mehrere Ringe der Luftverteidigung geschützt, entsprechend schwer fällt es den russischen Lenkwaffen, Ziele in der Hauptstadt zu treffen. In Odessa am Schwarzen Meer ist das anders. Weil es dort keine vorgelagerten Inseln gibt, können die Ukrainer Flugabwehrbatterien nur auf dem Festland stationieren. Es ist deshalb nicht möglich, die Hafenstadt mit geschlossenen Ringen aus Raketenbatterien und Radarstationen zu sichern. Ausserdem sind es bis zur russisch besetzten Halbinsel Krim über das Meer nur rund 180 Kilometer.
Die ukrainischen Donauhäfen, südwestlich von Odessa gelegen, sind ebenfalls beliebte Ziele für die iranischen Schahid-Drohnen. Gestartet werden sie auf der Krim. Zuerst fliegen sie übers Meer und dann dem ukrainischen Ufer der Donau entlang bis zu den Häfen Ismail und Reni. Einerseits ist die Flugabwehr dort viel schwächer als rund um Kiew, anderseits ist das rumänische Donau-Ufer nur ein paar hundert Meter entfernt. Die Ukrainer riskieren mit ihrem Abwehrfeuer also, dass Granaten oder Raketen auf rumänischem Territorium landen - und die Russen wissen das.
Ein Logistikunternehmer in Kiew, der gute Geschäftsbeziehungen in den ukrainischen Donauhäfen unterhält, erzählt Folgendes: Vor der russischen Invasion habe die Ukraine rund drei Millionen Tonnen Getreide über die Donau exportiert, aber 2022 seien es trotz russischem Beschuss etwa 28 Millionen Tonnen gewesen. «Auch wenn die Explosionen in Reni und Ismail medienwirksam ausgeschlachtet werden, ist der angerichtete Schaden halb so schlimm.»
Die Russen hätten in Reni auch ein Verwaltungsgebäude der Behörden getroffen. «Bei all der Korruption, mit der wir es zu tun haben, erleichtert uns das die Arbeit beim Getreideexport», fügt der Geschäftsmann lächelnd hinzu. «Ohne Bürokratie funktioniert hier einfach alles besser.»
Am Morgen nach dem nächtlichen Raketendonner über Kiew ist wieder alles wie vorher: Die Menschen gehen zur Arbeit, in Autobussen auf den verstopften Strassen, zu Fuss oder mit dem E-Trottinett.
Ich setze mich in ein Strassencafé, vor dem drei türkisfarbige Metalltische mit Stühlen auf dem Trottoir stehen. Wie sich bald herausstellt, befindet sich das Café nur ein paar Schritte von einem Spital entfernt. Dort werden Zivilisten behandelt, zum Beispiel eine Stadtbewohnerin mit einem gebrochenen Arm, aber auch viele Kriegsverwundete, die von der Front zur Behandlung nach Kiew gebracht wurden.
In dem Strassencafé herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, oder besser gesagt: ein Hinken und Humpeln. Amputierte mit zum Teil noch blutigen Verbänden mühen sich auf ihren Stöcken die Treppe hinauf, um an der Bar einen Kaffee zu bestellen. Es fehlen Hände und Füsse, unterhalb des Knies abgetrennt und manchmal auch oberhalb.
Am Nachmittag steigt das Thermometer auf weit über 30 Grad. Die Verwundeten kommen nun möglichst leicht bekleidet ins «café de l'horreur». Bei einem Mann sieht man deshalb gut, wie die Chirurgen sein rechtes Bein wieder zusammengeflickt haben. Operationsnarben beginnen unter dem Knie, verlaufen über den Unterschenkel, und selbst einen Teil der Fusssohle haben die Ärzte wieder angenäht. Der Unterschenkel steckt in einem Metallkäfig, von dem aus Schrauben die gebrochenen Knochen im Innern fixieren.
Noch schlimmer hat es einen anderen Soldaten getroffen, der nun im Elektrorollstuhl zu fahren kommt. Sein Bein sieht schrecklich aus, es ist übersät von Löchern, die von Granatsplittern zu stammen scheinen. Ein junger Mann, der am Knie operiert wurde, trägt ein T-Shirt, auf dessen Rückseite ein Totenkopf abgebildet ist, mit dem Schriftzug «Fuck This Shit».
Und den Ukrainerinnen und Ukrainern wünsche ich weiterhin viel Kraft, Inspiration für kreative und neue Lösungen zur Verteidigung gegen den russischen Terror und bessere Unterstützung durch den Westen.
Auch wenn köppel verzweifelt versuchte ein normales Leben in moskau zu dokumentierten, habe ich das Gefühl, dass die Ukrainer*innen in Kiew wesentlich entspannter leben, als die russen*innen in moskau, welche jederzeit von einer Verhaftung wegen eines unbedachten Wortes bedroht sind.