Offiziell hat sich Kiew nicht zu dem nächtlichen Angriff auf das Eisenbahnkreuz Dschankoj auf der Krim geäussert, aber im Kreml dürfte die Botschaft angekommen sein: Die Halbinsel ist kein sicherer Rückzugsort für die russischen Besatzer. Dschankoj ist der wichtigste logistische Knotenpunkt für Putins Truppen auf der Krim, ausserdem führen zwei Bahnstrecken von dort in den besetzten Süden der Ukraine. Bislang schien die Kleinstadt ausser Reichweite der meisten ukrainischen Waffen zu sein, jetzt muss die russische Armee womöglich umdenken.
«Mit einem Raketenwerfer vom Typ Himars wäre es ganz knapp möglich gewesen, Dschankoj von ukrainisch gehaltenem Territorium aus zu treffen», schreibt der US-Militärexperte Chuck Pfarrer. «Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass die Ukrainer ein so wertvolles Gerät so nah an die russischen Kräfte am anderen Ufer des Dnipro bringen.»
LONG RANGE PUNCH: A series of explosions have occurred at the RU airfield at Dzhankoya in occupied Crimea. It's noteworthy that no ‘confirmed’ weapon system in UKR’s possession could have reached this target. But ATACMS could. Just sayin’. https://t.co/9NwDVHgfUV pic.twitter.com/3EIZ68uXHj
— Chuck Pfarrer | Indications & Warnings | (@ChuckPfarrer) March 20, 2023
Handyaufnahmen aus sozialen Netzwerken, die den Angriff auf Dschankoj zeigen sollen, legen den Verdacht nahe, dass der Angriff mit Kamikazedrohnen ausgeführt wurde. In diesem Video ist das charakteristische Motorengeräusch des anfliegenden Geschosses gut zu hören:
Ukraine is attacking military targets in Dzhankoi, Crimea with something that sounds like… Iranian drones LOL pic.twitter.com/Npd12OYWuB
— Saint Javelin (@saintjavelin) March 20, 2023
Die grosse Explosion beim Einschlag des Geschosses deutet zudem darauf hin, dass es sein Ziel getroffen hat und nicht vorher abgeschossen wurde. Russland behauptet, der Angriff habe einer Schule und einem Lebensmittelgeschäft gegolten, der ukrainische Militärgeheimdienst GUR sprach dagegen von einer Wagenladung russischer Marschflugkörper vom Typ Kalibr NK, die bei dem Angriff zerstört worden seien.
Die Verantwortung für den Angriff übernahm der GUR nicht. «Die Schadensreichweite solcher Waffen beträgt mehr als 2'500 Kilometer gegen Landziele und 375 Kilometer gegen Seeziele», schrieb der GUR auf seiner Webseite.
Es ist nicht der erste Angriff weit in russisch besetztem Gebiet auf der Krim. Mitte August wurde ein Umspannwerk in Dschankoj und ein Munitionslager im nahegelegenen Maiskoje getroffen; auch damals war nicht klar, mit welchen Waffen der Angriff erfolgte. Nur eine Woche zuvor hatten mehrere Explosionen die russische Luftwaffenbasis Saki auf der Krim getroffen, mehrere Kampfflugzeuge sollen dabei zerstört worden sein.
Vom bisher grössten Schlag gegen die Krim hat sich Russland noch immer nicht erholt – dem Angriff auf die Kertschbrücke zum russischen Festland im Oktober. Als alltäglich deuten Kriegsbeobachter den jüngsten Angriff in der Nacht zu Dienstag trotzdem nicht.
«Wenn Russland seine Kalibr-Raketen auf Zügen transportiert und der Zug in Dschankoj getroffen wird, muss es bei den Russen ein massives Informationsleck geben», schreibt der frühere italienische Soldat und Militärexperte Thomas C. Theiner auf Twitter. Der australische General und Autor Mick Ryan sieht in dem Angriff einen Hinweis auf den verdeckten Kampf der Ukrainer gegen strategische Ziele der Russen. «Der Angriff auf Dschankoj zwingt die Russen, ihre Verteidigung der Krim und darüber hinaus zu überdenken», schreibt Ryan auf Twitter. «Den Ukrainern liefert der Angriff dagegen wichtige Hinweise auf die Reaktionen der russischen Besatzer auf der Krim.»
Nach Ansicht Ryans dürfte der Angriff auch den Vorrat an russischen Marschflugkörpern weiter dezimieren: «Verschiedene Quellen berichten inzwischen, dass die russische Armee nur noch die Raketen hat, die es neu produzieren kann», so Ryan. Der Sicherheitsexperte sieht aber auch ein deutliches politisches Signal hinter dem Angriff: «Der Schlag macht deutlich, dass die Ukraine die Krim zurückerobern will, auch wenn manche das für eine schlechte Idee halten. Ausserdem dürfte Putin der Angriff vor seinem ‹Freund› Xi Jinping ziemlich peinlich sein», so Ryan. Der chinesische Staatschef hält sich gerade zu Gesprächen in Moskau auf. (t-online)