Marija Lwowa-Belowa ist viel unterwegs und soll angeblich im Auto gesessen haben, als sie die Nachricht erhielt: Russlands Präsident Wladimir Putin wird per internationalem Haftbefehl gesucht – und sie ebenso. Die «Kommissarin für Kinderrechte» wird als mutmassliche Kriegsverbrecherin gesucht.
Wer ist die überzeugte Christin, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt, einst tatsächlich viel für Kinder tat, aber nun wegen der Verschleppung Minderjähriger mit Putin auf einer Stufe steht?
Das bislang 38 Jahre lange Leben der Marija Lwowa-Belowa dreht sich ausschliesslich um Kinder. Einen Berufswunsch habe sie in jungen Jahren eigentlich nie gehabt, sondern immer nur daran gedacht, eine grosse Familie zu haben. Sie war Gitarrenlehrerin, als sie mit 19 einen Mann heiratete, der sich in der Russisch-Orthodoxen Gemeinde engagierte – heute ist ihr Ehemann Priester. Dass beide von einer grossen Familie träumten, soll sie letztlich zusammengebracht haben – Lwowa-Belowas angebliche Bedingung für ein zweites Date: zukünftig mindestens drei Kinder.
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Zu lesen ist das in einem langen Porträt, das auf dem russischen Portal «Werstka» von einem kremlkritischen Journalisten veröffentlicht wurde. Dort erfährt man auch, dass Lwowa-Belowa über die Jahre diverse Einrichtungen für schwerbehinderte Kinder mit staatlicher Förderung und Geldern von Oligarchen aufgebaut hat. Andererseits soll sie einen Appell von 115 russischen NGOs ignoriert haben, in dem der Kreml aufgefordert wurde, sich stärker für Menschen mit Behinderung zu engagieren. Längst nicht alle, die in Russland für und mit Kindern arbeiten, sehen in ihr eine Verbündete.
Ein weiterer Grund, wieso die fotogene Frau aus der russischen Regierungspartei «Einiges Russland» 2021 von Putin zur «Kommissarin für Kinderrechte» ernannt wurde und die Unterstützung der Russisch-Orthodoxen Kirche geniesst, dürfte jedoch auch ihre eigene Familie sein.
Fünf eigene und vier adoptierte Kinder lebten bei ihr, ausserdem habe sie die Vormundschaft für 13 Kinder mit Behinderung übernommen, erzählte Lwowa-Belowa nach ihrer Ernennung. Seitdem ist noch Philip dazu gekommen: Der 15-Jährige stammt aus der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Mariupol – und steht beispielhaft für das russische Narrativ von vermeintlich geretteten Kindern und Jugendlichen, die nun ein besseres Leben in Russland hätten.
Philipp sagt in einem Film des nationalistischen Senders Tsargrad des Oligarchen Konstantin Malofejew, seine ukrainische Pflegefamilie hätte ihn im Krieg alleine gelassen. Seine neue russische Adoptivmutter Lwowa-Belowa, die er «Mascha» nennt – ein Kosename für Maria –, sei «der strahlendste Mensch, den ich je in meinem Leben getroffen habe. Ich hatte noch nie eine Person, die mich so sehr liebt wie sie.» Ein Kind, aus der Ukraine «gerettet» und nun mit einer «besseren Zukunft» in Russland.
Bereits in den ersten Kriegstagen wurden Hunderte von Kindern aus den besetzten Teilen der Ukraine über die russische Grenze «evakuiert», wie es hiess. Nicht nur die Ukraine spricht in diesen Fällen jedoch von «Deportationen»; auch der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs nutzt diesen Begriff. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Freitag, es könnten bereits mehr als 16'000 Kinder nach Russland verschleppt worden sein. Eine US-Studie geht immerhin von 6000 betroffenen Minderjährigen aus.
Die Kinder sollen zum Grossteil zunächst in provisorischen Unterkünften in Freizeitzentren und Kindereinrichtungen einquartiert worden sein – um dann in russische Familien integriert zu werden. Am 11. März, rund zwei Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, hatte Lwowa-Belova erstmals klar gesagt gemacht, dass ukrainische Waisenkinder in russische Familien übergeben werden. Putin habe «diese Entscheidung bedingungslos unterstützt» und ihr gesagt, sie solle «im Interesse der Kinder handeln».
Zahlreiche Nutzer der russischen Suchmaschine Yandex haben seitdem nach Informationen darüber gesucht, wie sie ukrainische Kinder zu sich holen können. «Ein Kind aus dem Donbass aufnehmen» wurde mehr als 30'000 Mal gesucht. Der Grossteil der Anfragen konzentrierte sich auf die ersten Kriegsmonate.
Die Ukraine ist so inzwischen zum Selbstbedienungsladen für russische Familien mit Kinderwunsch geworden – und Marija Lwowa-Belowa zu der Frau, die das Verschleppungssystem dahinter orchestriert. Die «Kommissarin für Kinderrechte» rühmt sich derweil damit, dass sie «nach der Spezialoperation nicht 100 Prozent, sondern 150 Prozent» gegeben habe.
Sie selbst lässt sich gerne dabei fotografieren, wenn sie ukrainische Kinder Richtung Russland begleitet – in aller Öffentlichkeit und leicht nachzuweisen. Das dürfte erklären, warum die Verschleppung von Kindern als erstes von mehreren mutmasslichen Kriegsverbrechen zu Haftbefehlen aus Den Haag geführt hat.
Lwowa-Belowa spricht inzwischen von «unseren Kindern» und schwärmt davon, wie schnell die Kinder in ihren neuen russischen Leben aufgingen. «Sie sehen sogar aus wie ihre Adoptiveltern», so Putins Kinderbeauftragte. Die Kinder erhalten laut Auskunft von Lwowa-Belowa umgehend die russische Staatsangehörigkeit und würden dann «patriotisch erzogen» – in ihrem auferzwungenen neuen Heimatland, das enorme demografische Probleme hat.
Auf den Haftbefehl aus Den Haag reagierte Lwowa-Belowa am Freitag mit bissiger Ironie. «Es ist grossartig, dass die internationale Gemeinschaft die Arbeit für die Kinder unseres Landes gewürdigt hat, dass wir sie nicht in den Kriegsgebieten zurücklassen, dass wir sie herausholen, dass wir gute Bedingungen für sie schaffen, dass wir sie liebevoll umgeben», erklärte sie. Bereits vor Bekanntwerden des Haftbefehls stand sie unter diversen Sanktionen, unter anderem seitens der Europäischen Union.
Doch die Botschaft des Internationalen Strafgerichtshof könnte einige russische Beamte dennoch ins Grübeln bringen. Davon geht zumindest der Oppositionspolitiker und frühere Duma-Abgeordnete Dmitri Gudkow aus, der inzwischen im Exil lebt. Auf Facebook bezeichnete er den Haftbefehl gegen Putins «Kinderbeauftragte» als einen «Weckruf». Für viele Russen im Staatsapparat stelle sich jetzt die Frage: «Wer könnte der Nächste sein?» Für Lwowa-Belowa gilt in jedem Fall: Sie muss nun in 123 Ländern der Welt damit rechnen, verhaftet zu werden. (t-online/law)