Zwar ist Jewgeni Prigoschin schon seit zwei Monaten tot, doch sein Geist ist nach wie vor präsent in der russischen Politik. Der Söldnerführer, der der Armee des russischen Diktators Wladimir Putin mit der Einnahme Bachmuts den bislang grössten Erfolg in der Ukraine bescherte, hatte sich immer wieder mit Kritik an der russischen Militärführung hervorgetan. Und er tut es immer noch.
Wie der US-Thinktank Institut für Kriegsstudien (ISW) berichtet, erregte nun der Geschäftsmann Kirill Kachur mit einer Anfrage die Aufmerksamkeit im politischen Moskau. Gestellt hatte er diese an die oberste Korruptionsermittlungsbehörde Russlands, das Investigativ-Komitee der Russischen Föderation. Kachur wollte wissen, was denn eigentlich aus mehreren Anzeigen Prigoschins geworden sei, die der Wagner-Gründer noch vor dem Aufstand seiner Söldner im Juni an die Behörde gerichtet hatte.
Das Komitee wurde 2011 gegründet und übernimmt vor allem Ermittlungen im Bereich der Korruption, insbesondere bei zivilen Sicherheitsdiensten wie der russischen Polizei, aber auch der Armee. Kurz vor seinem unfreiwilligen Ableben hatte Prigoschin von der Behörde Ermittlungen gegen die obersten Militärs gefordert. Seiner Meinung nach hatten sich Verteidigungsminister Sergei Schoigu und mit ihm der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht.
In den Eingaben an die oberste Ermittlungsbehörde bezichtigte Prigoschin die beiden wohl des «Genozids am russischen Volk und der Ermordung von Zehntausenden russischen Bürgern sowie der Herausgabe russischen Territoriums an den Feind». Er bezog sich damit auf den für die regulären russischen Streitkräfte niederschmetternden Verlauf des Ukraine-Kriegs, der von enormen Rückschlägen und hohen personellen Verlusten geprägt war.
Die Diadochenkämpfe zwischen Prigoschin, Schoigu und Gerassimow gingen schon immer über persönliche Animositäten hinaus, sie trugen ideologische Züge. Schon lange hatte Prigoschin seinem Unmut über die Verantwortlichen im Verteidigungsministerium Luft gemacht. In den Monaten kurz vor der Einnahme Bachmuts im Mai 2023 kübelte er fast täglich in sozialen Netzwerken seinen Hass und seine Verachtung auf die Generalität heraus, mindestens genauso oft forderte er deren Entlassung. Prigoschin forderte wie viele andere ultranationalistische Russen ein härteres Vorgehen in der Ukraine.
Dass insbesondere Schoigu zu Prigoschins Zielscheibe wurde, wundert dabei nicht. Der Verteidigungsminister ist bei der Armee Quereinsteiger. Seine militärische Expertise verhält sich umgekehrt proportional zu den vielen Orden, die er bei öffentlichen Auftritten gerne am Revers trägt. Bevor der 66-Jährige das höchste Amt der Armee übernahm, hatte der ausgebildete Ingenieur Schoigu nie eine wichtige Position bei den Streitkräften inne (dafür aber eine Reihe militärischer Pseudotitel, die er in seiner Funktion als Minister für Katastrophenschutz erhielt). Er diente auch nicht in der russischen Armee.
Schoigu gilt als Karrierist. Er soll stets bereit sein, alles zu tun, um den jeweiligen Regierungschefs zu gefallen (was ihm den Spitznamen «das Chamäleon» einbrachte). Ihnen gegenüber ist er absolut loyal. Als der Kremlherrscher ihn 2012 zum Verteidigungsminister machte, sollte er eine von Korruption, maroder Ausrüstung und schlechter Moral geplagte Armee modernisieren. Doch die Reformen seines Vorgängers Anatoli Serdjukow nahm er umgehend wieder zurück, entlassene Generäle setzte er wieder ein. Schoigu baute lieber auf Altbewährtes, anstatt sich mit Neuerungen unbeliebt zu machen.
Mit der gelungenen Besetzung und Annexion der Krim 2014 schmeichelte er sich bei Putin ein. Die Operation wurde vom Kreml als voller Erfolg gewertet. Auch die brutale Intervention russischer Truppen in Syrien stärkte Schoigus militärisches und vor allem politisches Ansehen. Er etablierte sich als wichtiger Pfeiler in Putins innerstem Zirkel. Zudem polierte der studierte Ingenieur mit zahlreichen technologischen Initiativen auch das verstaubte Renommee der russischen Armee auf.
Bis 2022. Da startete Putin mit Schoigus Unterstützung den Ukraine-Krieg. Statt in drei Tagen, wie von den Kremlstrategen geplant, fiel die Ukraine gar nicht. Im Gegenteil: Kiews Truppen fügten der russischen Übermacht empfindliche Niederlagen zu, vertrieben sie aus Teilen des Landes und offenbarten die Schwachstellen der «zweitstärksten Armee der Welt, die inzwischen nur noch die zweitstärkste Armee in der Ukraine ist», wie der amerikanische Aussenminister Anthony Blinken unlängst spottete.
Das russische Militär wurde zum Gespött, Schoigu und Gerassimow wurden zu den Gesichtern des Debakels. Die Schwäche der beiden nutzte Prigoschin, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Experten gehen davon aus, dass der Warlord auch deshalb so lautstark gegen die Generäle pestete, weil er sich selbst gern auf einem bedeutenden Posten im Kriegsministerium gesehen hätte. Mit seinen öffentlichen Schimpftiraden und schliesslich der gescheiterten Meuterei legte er den Finger in die Wunde des Systems Putin: Der Despot legt mehr Wert auf Loyalität als auf Expertise. Und weil Prigoschin erstere wohl zu stark strapazierte, stürzte er am 23. August mit seiner Privatmaschine in den Tod.
Wie das ISW analysiert, soll es durchaus Russen geben, die mit Prigoschins Schelte an der russischen Militärführung sympathisiert haben – und es immer noch tun. Die Arbeit von Schoigu und Gerassimow als Kriegsherren wird also bei einem Teil der Bevölkerung nach wie vor skeptisch beäugt, und sie würde vermutlich noch mehr Unmut auf sich ziehen, wenn die Kremlpropaganda den Russen nicht vorgaukelte, die Invasion der Ukraine sei ein Erfolg.
Doch Putin hält eisern an seinen Vertrauten in der Militärführung fest. Erst vor wenigen Tagen besuchte er Gerassimow im Hauptquartier des südlichen Militärbezirks, von wo aus die russische Armee ihren Ukraine-Krieg dirigiert. Das Volk nimmt es dem «Zaren» offenbar nicht übel.
Auf die Frage: «Unterstützen Sie persönlich die Handlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine, oder nicht?», antwortet die grosse Mehrheit jedenfalls mit «Ja». Auch nach rund 20 Monaten brutaler Kämpfe und hoher Verluste in den eigenen Reihen stehen 73 Prozent der Russen hinter dem Kriegskurs ihres Machthabers und dem Vorgehen seiner Generäle. Auf diesen Wert kam nun das unabhängige russische Meinungsforschungsinstitut Lewada in einer landesweiten Befragung.
Die wenigen kritischen Stimmen im Land kommen (oder kamen) zuletzt ohnehin nicht etwa von Kriegsgegnern, sondern von brutalen Hardlinern wie Igor Girkin oder eben Prigoschin. «Ein gewisses Lager innerhalb des russischen Informationsspektrums identifiziert sich nach wie vor mit Prigoschin und dessen hypernationalistischer Kriegstreiberei», schreiben die US-Analysten des ISW. «Das heisst, die Anti-Schoigu-Ideologen werden ihre Kritik am Verteidigungsministerium und an der Militärführung wohl auch weiterhin artikulieren.»
Dass Kritik in Russland sehr gefährlich ist, musste auch Kirill Kachur bereits feststellen. Russlands oberste Anti-Korruptionsbehörde hat ihn nämlich auf die internationale Fahndungsliste setzen lassen: Er soll wegen Veruntreuung und Bestechung in Millionenhöhe und Bildung einer kriminellen Vereinigung ins Gefängnis wandern.
Mit leerem Kopf nickt es sich leichter.
Ach ja, irgendetwas in Russland als unabhängig zu bezeichnen, zumal ein Meinungsinstitut ist lächerlich.
Schon immer mussten RussInnen Erfolg melden, sonst gabs eine Abstrafung. Deshalb tun sie das auch, egal wie die Realität aussieht, dies Sinn macht.