Noch war kein Panzer über den Roten Platz gerollt und kein Jagdflieger gestartet, da zeigte sich Russlands Führungsmannschaft schon in bester Stimmung. Sergej Iwanow, engster Kampfgefährte Wladimir Putins und meist in zivil, hatte seine Paradeuniform angezogen, die eines Generalleutnants der Auslandsaufklärung.
Iwanow stieg mit demonstrativem Lächeln auf die Tribüne. Dort scherzte er mit anderen Führungskadern, die ihm aus den Geheimsitzungen vertraut sind: Mit Auslandsgeheimdienstchef Michail Fradkow, Aussenminister Sergej Lawrow und dem Chef des mächtigen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin. Und als ginge es darum, die Kontinuität der Kreml-Macht zu demonstrieren, begrüsste Iwanow mit Handschlag den letzten Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow.
An die Vergangenheit des sowjetischen Imperiums erinnerte auch die kräftige und strenge Stimme aus dem Off, die ankündigte, die Parade werde mit dem Vorantragen «zweier Symbole Russlands» durch Soldaten beginnen, dem «Banner des Sieges», das einst sowjetische Soldaten auf dem eroberten Reichstag in Berlin hissten und mit der russischen Staatsflagge. Das Signal des Sprechers an die «Erben des Sieges»: Aus Sicht der heutigen Führung ist die sowjetische Ära ein untrennbarer Teil der russischen Identität und Geschichte.
Staatschef Putin wandte sich mit einer knappen Rede an die Soldaten und Gäste. Er rühmte den «grandiosen Sieg über den Nazismus» und «Hitlers Abenteuer» als eine Lektion für die gesamte Menschheit. Er erinnerte an die Verbündeten der Sowjetunion im Kampf gegen Hitler, an Frankreich, Grossbritannien und die USA. Dabei vermied er jede Spitze gegen die Deutschen. Mehr noch, er erwähnte, gegen Hitler hätten «Antifaschisten verschiedener Länder, darunter auch in Deutschland selbst» gekämpft.
Putin hob die «Kampffront gegen den Militarismus in Asien» während des Zweiten Weltkrieges hervor und die Rolle des chinesischen Volkes im Sieg über den «japanischen Militarismus». Diese Worte waren vor allem an seinen wichtigsten Gast gerichtet, der an seiner Seite die Tribüne betreten hatte: der Generalsekretär der KP Chinas, Xi Jinpeng.
Den Namen des sowjetischen Oberbefehlshabers im Krieg gegen Hitler, Josef Stalin, erwähnte Putin nicht. Auch liess er wie in früheren Jahren das Lenin-Mausoleum mit Stellwänden verhüllen. Die Botschaft: Russlands Staatschef will nicht als Fortsetzer des Sowjetsystems erscheinen. Damit wies Putin auch Vorschläge imperial gesinnter Hardliner zurück, die ihn im Vorfeld der Parade gedrängt hatten, Stalin positiv zu erwähnen und die Stadt Wolgograd wieder in Stalingrad umzubennen. Die Scharfmacher hätten es auch gern gesehen, Einheiten der Rebellen aus den Lugansker und Donezker Volksrepubliken über den Platz ziehen zu lassen.
Doch das liess Putin nicht zu. Und zur Situation in der Ukraine sagte Putin kein Wort. Er überliess es den Gästen auf der Tribüne, vorbeimarschierenden Marinesoldaten aus der Hafenstadt Sewastopol auf der Krim Beifall zu spenden. Putin forderte ein «System gleicher Sicherheit für alle Staaten» und kritisierte den «Versuch der Schaffung einer monopolaren Welt». Gemeint ist damit die Kritik an einer aus russischer Sicht auf Hegemonie zielenden amerikanischen Politik. Die USA-Politik selbst erwähnte Putin in seinem Auftritt jedoch nicht direkt.
Die Parade, die nach Putins Rede begann, weckte Erinnerungen an die Siegesparade auf dem Roten Platz am 25. Juni 1945. Junge Soldaten mit den Stahlhelmen und Uniformen der Kriegszeit zogen über den Platz, auch mit aufgepflanztem Bajonett. Da kamen manchem der über neunzigjährigen Veteranen auf der Tribüne die Tränen. Auf die Geschichtseinlage folgte die Demonstration der Moskauer These, dass Russland heute nicht völlig isoliert ist.
Über den Platz zogen militärische Einheiten Aserbaidschans, Armeniens, Kasachstans, Weissrusslands und Tadschikistans. Die Stargäste der Parade waren Soldaten der Volksrepublik China, die ihre rote Landesfahne über den Platz trugen. Mit dessen Führung hatte Russland am Vorabend der Parade zahlreiche Verträge, vor allem über grosse Infrastrukturprojekte wie Schnellbahnlinien, abgeschlossen. 70 Jahre nach Kriegsende rücken die Erben Stalins und Mao Zedongs damit näher aneinander als je zuvor. Der ideologische Streit mit Peking, von Sowjetführern einst exzessiv betrieben, gehört in Moskau der Vergangenheit an.
Ein strenger Hauch sowjetischen Erbes aber klang an, als der Sprecher aus dem Off den Aufmarsch der «Division Dserschinski», der Truppen des Innenministeriums, ankündigte. Die nach dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei benannte Einheit wäre im Ernstfall dazu da, innere Unruhen niederzuschlagen.
Wie Russland sich für den Kampf mit Gegnern von aussen rüstet, zeigte der Aufmarsch von Panzertruppen. Hinter musealen T-34-Panzern aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich ein wenig stotternd über den Platz bewegten, folgte der neue «Armata»-Panzer. Die wuchtigen Kampfmaschinen liessen das Pflaster des Roten Platzes und die Tribüne vibrieren, unter dem zufriedenen Lächeln des für die Rüstungsindustrie zuständigen Vizepremiers Dmitrij Rogosin.
Speziell der «Armata»-Panzer sollte zeigen, dass sich in Moskau eine militärische Weltmacht präsentiert. Dazu passten auch die neuen Haubitzen, Luftabwehrraketen und strategische Bomber.
Den Schlussakkord der massiven Machtdemonstration setzten Flieger, die farbigen Nebel in den Landesfarben weiss, blau und roten in den Himmel über dem Kreml warfen. Zu den Gästen aus aller Welt, die in gelöster Stimmung hinter Putin vom Platz zogen, gehörten auch zwei Staatschefs, die jenen revolutionären Ideen des Wladimir Lenin anhängen, dessen Mausoleum der Kreml verhüllen liess. Kubas Präsident Raùl Castro winkte reifen Moskauerinnen zu, die in den Sechzigerjahren seinem Bruder Fidel zujubelt hatten. Und neben ihm ballte Venezuelas Präsident Nikolas Maduro eine Faust zum Genossen-Gruss.
Es war, als wollten die beiden Moskau-freundlichen Revolutionäre aus der Karibik beweisen, dass das heutige Russland weit tiefer in der sowjetischen Geschichte wurzelt als man im Kreml offiziell einräumen mag.