Die Truppen sind gut organisiert, und die Kommandanten auf der unteren Ebene haben die Autonomie, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen. Deshalb sind die Ukrainer um so vieles flexibler als die schwerfällige russische Armee, wo man Befehlen von oben folgen muss, auch wenn diese schon längst von der Wirklichkeit überholt worden sind. Die meisten ukrainischen Soldatinnen und Soldaten sind hoch motiviert, nicht zuletzt wegen der jüngsten Siege im Osten und Süden. Sie kämpfen für ihr Heimatland.
Die Ukrainer haben nun wesentlich mehr Kriegserfahrung als früher. Natürlich hat ein Teil der Armee schon seit 2014 gegen die Russen gekämpft, aber das war mehrheitlich ein Stellungskrieg. Nun haben die Ukrainer gelernt, einen Bewegungskrieg zu führen, und dafür setzen sie auch immer mehr digitale Hilfsmittel ein. Und besonders bei der Artillerie haben sie massive westliche Hilfe erhalten, inklusive Munition. Den Russen scheinen dagegen die Granaten auszugehen.
Die Mängel sind teilweise dieselben, wie schon zu Beginn des Kriegs: Alle Kampfpanzer und die meisten Schützenpanzer stammen noch aus der Sowjetzeit. Hier fehlt den ukrainischen Verteidigern modernes Gerät mit westlicher Technik.
Dort, wo ich mich umgesehen habe, wurden fieberhaft winterfeste Stellungen, also Bunker mit Brennöfen und Lüftungen gebaut. Helfen dürfte auch Deutschlands Lieferung einer grossen Zahl von Winteruniformen. Die ukrainische Zivilgesellschaft hilft ebenfalls mit, ihre Soldaten mit winterfestem Schuhwerk und Schlafsäcken zu versorgen. Für viele Soldaten, die erst vor wenigen Monaten eingezogen wurden, ist dies der erste Winterkrieg.
Vor allem Schläge gegen Zivilisten und zivile Infrastruktur wie Kraftwerke und Einrichtungen der Wasserversorgung. Wenige Ukrainer glauben, dass Russland in den kommenden Wochen zu einer Gegenoffensive auf breiter Front in der Lage ist. Die Versorgungslage und der geringe Organisationsgrad der russischen Truppen lässt das kaum zu. Aber am Ende weiss niemand, was die Zukunft bringt.
Darüber kann ich nur spekulieren, weil ich mich nicht auf der russischen Seite der Front aufhalten konnte. Von dem, was man so hört, sind die Russen nach all den Niederlagen in diesem Krieg ziemlich demoralisiert.
Der wievielte Kommandowechsel ist das nun? Ein Infanterist, der bisher Chef der nicht gerade überzeugenden russischen Luftwaffe war, ist nun Oberkommandierender des ganzen russischen Expeditionskorps in der Ukraine. Er gilt als brutal, doch die Russen waren schon vorher brutal und nahmen keine Rücksicht auf zivile Opfer. Ich erwarte deshalb wenig Veränderungen. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte, was Ausrüstung, Training, Logistik und Führung der russischen Truppen betrifft, lassen sich nicht in kurzer Zeit und während einer gescheiterten Armeeoperation beheben.
Frisch mobilisierte Soldaten wurden bereits an die Front geworfen. Manche von ihnen wurden bereits von den Ukrainern gefangen genommen. Diese armen Männer sind Kanonenfutter, und jene, die das noch nicht erfasst haben, werden das in den nächsten Wochen und Monaten am eigenen Leib erfahren. Moskau hat bereits ganze Eliteeinheiten in der Ukraine verheizt, was will man da mit Anfängern und Grünschnäbeln erreichen?
Angriffe auf die Infrastruktur erschweren das Leben aller Ukrainerinnen und Ukrainer, der Soldaten und der Zivilisten. In Mikolajew im Süden, einer grossen Stadt, gibt es zum Beispiel seit längerem kein fliessendes Wasser mehr. Angriffe auf die Stromversorgung wirken sich ähnlich aus. Das kürzlich von russischen Raketen und Marschflugkörpern angerichtete Blutbad in ukrainischen Städten ist allerdings kontraproduktiv: Statt die Ukrainer einzuschüchtern, schürt es den Kampf- und Überlebenswillen der Bevölkerung und der Soldaten.
Zugleich scheint es so, als ob der Westen als Reaktion seine Waffenhilfe eher verstärkt als verringert. Moskaus Eskalation erreicht also genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich bezweckt hat. Und auf die Schlachtfelder haben die Angriffe auf die Städte keinen Einfluss. Die Wucht dieser Attacken lässt sich nicht im Geringsten mit den alliierten Bombardierungen deutscher Städte während des Zweiten Weltkriegs vergleichen. (cpf/aargauerzeitung.ch)