Am Sonntag war Patriarch Kirill durch die Erzengel-Michael-Kathedrale im Moskauer Kreml geschritten. Mit dem orthodoxen Kreuz in der Hand sagte das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche während seiner Liturgie: «Russland hat noch nie jemanden angegriffen und beabsichtigt auch nicht, gegen jemanden zu kämpfen.»
So sieht die Verurteilung eines Krieges durch den Mund des höchsten russischen Geistlichen aus, den die EU nun sanktionieren will, wie bereits zuvor russische Politiker, Unternehmer und Propagandisten.
Kirills Worte klingen hart, überraschend sind sie nicht. Er predigt seit Jahren Hass auf den Westen und verlangt Loyalität zum russischen Staat. Den Angriff Russlands auf die Ukraine sieht der 75-Jährige als einen metaphysischen Kampf des Guten gegen das Böse, wobei Russland nach seinem Verständnis gut ist und der Westen böse. Der Kirchenmann steht seit langem an der Seite des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Die beiden verbindet eine Vergangenheit beim sowjetischen Geheimdienst KGB und noch mehr die Vorstellung vom heutigen Russland: als Gegenpol zum, in ihren Augen, verkommenen Westen. Zusammen prägen sie das Bild eines konservativen Landes mit den ihm eigenen, ja einzigartigen – traditionellen, konservativen – Werten. Da stört es wenig, dass das Land laut Verfassung ein säkularer Staat ist.
Kirill heisst mit bürgerlichem Namen Wladimir Gundjajew und entstammt einer Priesterfamilie aus Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Auch sein Vater und Grossvater predigten, zu Zeiten, als die Kommunisten Prediger erschiessen liessen und Kirchen zu Lagerhallen oder Bibliotheken machten. Kirills Vorfahren verbrachten viele Jahre im Gulag.
Offenbar noch als Archimandrit (ähnliche Position wie die des Abtes in der katholischen Kirche) liess sich Kirill in den 1970er-Jahren vom KGB zum offiziellen Mitarbeiter «Michajlow» anwerben. Lange Zeit war er als eine Art «Aussenminister» der russisch-orthodoxen Kirche aktiv und verbrachte viele Jahre im Ausland. Am 1. Februar 2009, nach dem Tod des Patriarchen Alexi, wählte ihn der Heilige Synod zum 16. Patriarchen von Moskau. 100 Millionen Gläubige hören auf sein Wort.
Der Staat weiss das zu nutzen. Mittlerweile ist die Allianz zwischen dem Kreml und der russisch-orthodoxen Kirche so eng, wie sie zuletzt im Zarenreich war. Die Kirche hilft, das Vakuum zu füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden war. Die Menschen suchen nach Zuwendung, suchen die Sicherheit. In der Kirche finden sie all das, was die neue Welt der vielen Möglichkeiten sie so sehr durchs Leben taumeln lässt.
Manche Priester in Russland, noch mehr aber in der Ukraine, wo die russisch-orthodoxe Kirche ebenfalls Pfarreien hat, haben sich von Kirill allerdings abgewandt. Mehr als 200 ukrainische Priester der Kirche Moskauer Patriarchats fordern eine Absetzung ihres Oberhauptes.
Den «Tabak-Patriarchen», wie Kirill verächtlich genannt wird, weil er in den 1990er-Jahren im Namen der Kirche mit Zigaretten und Öl handelte, stört das wenig. Er weiss die Politik auf seiner Seite. Das Moskauer Patriarchat ist längst zum mächtigsten Pfeiler von Putins imperialer Neurussland-Ideologie geworden, die Kirche zur Bühne für traditionsbewussten Nationalismus. (bzbasel.ch)