Die umfassenden Sanktionen, mit denen der Westen Russland belegt hat, zeigen Wirkung: Die russische Wirtschaft leidet massiv, selten stand das Land international so isoliert da. Doch Putin führt seinen Angriffskrieg unbeirrt weiter, Zeichen für ein Einlenken gibt es keine. Zudem sind die Energiepreise in die Höhe geschossen, Versorgungssicherheitsängste machen sich breit, der Weizen wird knapp, Hungerkatastrophen drohen. Nun machen sich erste Zweifel an der Sanktionspolitik des Westens bemerkbar.
Ja, sagt Yngve Abrahamsen, Ökonom an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Und zwar auch unmittelbar – etwa, indem spezifische Güter fehlen. «Einige Unternehmen können die Produktion nicht aufrecht halten», sagt Abrahamsen. Oder jedenfalls nicht auf dem gleichen Niveau wie früher. So hat jüngst der Lada-Produzent zwar das Fliessband wieder angeworfen, die Autos aber werden wegen der westlichen Sanktionen ohne Airbag und ohne Antiblockiersystem (ABS) gebaut. Denn überall fehlen Chips, Bestandteile, Ersatzteile.
Auch die Konsumentinnen und Konsumenten bekommen die Sanktionspolitik zu spüren. Die Auswahl in den Regalen ist deutlich kleiner geworden, der Rückzug westlicher Konzerne wie McDonalds oder Ikea schmerzt. Und sogar die Oligarchen dürften in ihrem bis anhin luxuriösen Lebensstil stark beschnitten worden sein, wie Abrahamsen ergänzt.
Auch Mark Daniel Jaeger betont, dass die Sanktionen gegen Russland erhebliche Wirkungen zeigten. Und der Politikwissenschafter, der an der ETH Zürich umfassend zu Sanktionen geforscht und unter anderem das Auswärtige Amt in Deutschland beraten hat, sagt, dass Sanktionen als Reaktion auf einen Völkerrechtsbruch ganz grundsätzlich sinnvoll seien. Denn schliesslich gehe es darum, das Völkerrecht zu schützen – unabhängig der unmittelbaren Wirkung der Massnahmen.
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Nein. «Die Erwartung, Putin in kurzer Zeit in die Knie zu zwingen, können Sanktionen allein nicht erfüllen», sagt Jaeger zu CH Media. Es brauche für einen Durchbruch nebst den Sanktionen auch immer diplomatische Arbeit, wie das Atomabkommen mit dem Iran 2016 gezeigt habe. Dennoch würden die Sanktionen gegen Russland das Regime und die Oligarchen empfindlich treffen. Dieser Effekt könne sich noch verstärken, da die USA, die EU und Grossbritannien aktuell daran seien, gewisse Schlupflöcher zu stopfen und die Massnahmen noch besser abzustimmen.
Das Bruttoinlandprodukt droht dramatisch zu schrumpfen. Gemäss einer Reuters-Umfrage bei 18 Experten dürfte die russische Wirtschaft als Folge der westlichen Sanktionen in eine schwere Rezession stürzen und in diesem Jahr um 7,6 Prozent schrumpfen. Eine Prognose des Moskauer Finanzministeriums fällt sogar noch pessimistischer aus: Dort rechnet man gar mit einem Einbruch von bis zu 12 Prozent. Und rein technisch ist Russland bankrott: Das Land konnte jüngst eine Zinszahlung von 100 Millionen Dollar nicht leisten – das vor allem aber, weil Putins Land von den internationalen Finanzströmen isoliert worden ist.
Die Sanktionen hinterlassen jedoch nicht nur unmittelbar Spuren, sie dürften noch lange nachwirken.
Der Lebensstandard der durchschnittlichen russischen Familie werde stark sinken.
Längerfristig werden die Sanktionen auch dazu führen, dass Russland technologisch abgehängt werde, wie Sanktionsexperte Jaeger ergänzt. «Das wird auch den militärischen Bereich treffen.»
Trotz katastrophaler Aussichten für die russische Wirtschaft haben die geeinten Strafmassnahmen der westlichen Demokratien Russlands Krieg bisher nicht stoppen können. Dies liegt daran, dass Putin bereits 2014 begonnen hat, sich vom Westen unabhängiger zu machen. Russland deckte sich weniger im Ausland mit Kapital ein, schirmte seinen staatlichen Bankensektor noch stärker ab und hortete beispielsweise tonnenweise Gold, um sich vom Dollar zu lösen. Gleichzeitig fliesst durch die explodierenden Energiepreise massiv Kapital ins Land, womit Putin seine Währung, den Rubel, stützen konnte. Dessen Kurs liegt nach einem massiven Einbruch zu Kriegsbeginn gar höher als vor dem russischen Einmarsch.
Wie die Abhängigkeit und der Hunger nach russischem Öl und Gas Russland in die Hände spielen, bringt die internationale Arbeitsgruppe zu russischen Sanktionen an der Stanford University auf den Punkt: «Seit der Krieg begonnen hat, haben westliche Demokratien durch Öl- und Gaskäufe mehr Geld nach Russland geschickt als Geld in die Ukraine.»
Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen formulierte es bei seinem Auftritt am Schweizer Industrietag vom 23. Juni so: «Zum einen schicken wir Waffen im Wert von Milliarden von Euros an die ukrainische Armee, zum anderen finanzieren wir gleichzeitig Russlands Kriegsmaschine, welche diese Waffen zerstören soll.»
Das ergebe keinen Sinn. «Wenn wir Putin dazu bringen wollen, diesen Krieg zu beenden, dann muss die EU sämtliche Importe von russischem Öl und Gas stoppen.» Der Hahn müsse unverzüglich zugedreht werden.
Beim Gas- und Ölexport Russlands erkennt auch KOF-Ökonom Abrahamsen die Achillesferse der Sanktionen: «Man kann Russland nicht mit wirtschaftlichen Sanktionen allein in die Knie zwingen, dafür bezieht Westeuropa zu viel Erdgas und Erdöl gegen Euro.»
Vor dem Gasdilemma steht insbesondere Deutschland. Dort hat Putin bereits seine Gaslieferungen über die Pipeline Nordstream 1 gedrosselt. Wirtschaftsminister Robert Habeck musste deshalb die Alarmstufe des Gasnotfallplanes ausrufen – es drohen im Winter Gasengpässe, die auch die Schweiz treffen könnten. Die hiesigen Gasversorger beziehen ihr Gas über Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. 43 Prozent des so in die Schweiz importierten Gases stammt aus Russland. Der Bundesrat und die Gasindustrie wälzen derzeit ebenfalls Notfallpläne. Ziel ist es, über die Nachbarländer wie Deutschland oder Frankreich weiterhin die Versorgung zu sichern.
Anders beim Rohöl: Im sechsten Sanktionspaket haben die europäischen Staaten ein vollständiges Verbot von Rohölimporten aus Russland beschlossen. Um den Ausstieg abzumildern, gilt eine Übergangsfrist bis Anfang 2023. Der Bundesrat hat entschieden, sich diesen Massnahmen anzuschliessen.
Bei weitem nicht alle Staaten haben sich der vom Westen gesteuerten Sanktionspolitik angeschlossen. Auch sehr grosse Nationen scheren aus, namentlich China und Indien. Das führt dazu, dass Russland die Sanktionen umgehen kann. Doch, betont KOF-Ökonom Abrahamsen: Ausweichgeschäfte mit diesen Ländern hätten ihren Preis, denn Russland könne das Erdöl und Erdgas nur zu deutlich tieferen Preisen verkaufen als an andere Länder.
Mittel- bis langfristig dürften diese Umgehungsmöglichkeiten die Wirkungen von Sanktionen abdämpfen. Das jedenfalls sagt Patrick Dümmler vom Thinktank Avenir Suisse: «Es braucht zwar etwas Zeit, bis neue Lieferrouten etabliert und neue Pipelines erbaut sind, doch sobald diese stehen, dürften die Umgehungsgeschäfte zunehmen - und die Wirkung der Sanktionen dürfte abnehmen.» Der Ökonom erachtet die westlichen Sanktionen zwar als richtig, warnt aber davor, deren Wirkung zu überschätzen.
Für die Sanktionsexperten der Stanford University ist klar: Die Strafmassnahmen müssen verschärft werden. «Wenn westliche Demokratien den Kreml nicht mit allen verfügbaren Sanktionen unter Druck setzen, riskieren sie, dass Putin sich noch angriffslustiger zeigen wird - was letztlich die Kosten für die globale Wirtschaft und Sicherheit noch erhöhen wird.» Die Experten fordern deshalb, Russlands Finanzsystem noch stärker zu isolieren und es vom im Moment noch reichlich zuströmenden Kapital abzuschneiden. Neben den Einkünften aus Öl und Gas sei ein Schwachpunkt Russlands fehlende Fremdwährungsreserven in Dollar und anderen westlichen Währungen.
Daneben brauche es weitere Massnahmen gegen die Oligarchen: «Reiche Russen sollten nicht länger ihre Vermögenswerte an Familienmitglieder überschreiben können.» Zudem fordern die Stanford-Experten, der Westen solle Russland als Terrorismusfinanzierer einstufen und auf die schwarze Liste der «Financial Action Task Force» setzen. Denn noch immer hätten viele westlichen Institutionen und Firmen ihre Investitionen nicht aus Russland abgezogen. Ob solche weiteren Verschärfungen Putin an den Verhandlungstisch oder gar zum Kriegsstopp bewegen können, ist umstritten.
Bisher hat der Westen die Sanktionen stets schrittweise verschärft. Sollte Putin tatsächlich die Kampfhandlungen einstellen und verhandeln wollen, stellt sich die heikle Frage, ob bereits zu diesem Zeitpunkt gewisse Sanktionen fallen sollen, um eine Friedenslösung zu beschleunigen. Daniel Jaeger mahnt zur Vorsicht: «Der Westen sollte eine Reduktion der Sanktionen an klare Bedingungen knüpfen und diese unmissverständlich kommunizieren.»
Als Beispiel, bei dem Strafmassnahmen kaum Effekte zeigten, nennt Experte Jaeger den Syrien-Krieg, der seit 2011 andauert. Dort hatten sich zu wenige einflussreiche Länder den Sanktionen angeschlossen. Etwas komplexer ist das Beispiel Nordkorea. Auf den ersten Blick scheint es, als ob die internationale Isolation Diktator Kim Jong-un nichts anhaben kann. Doch: «Wenn es das Ziel ist, Nordkoreas militärische Aufrüstung einzudämmen, sind die Sanktionen halbwegs erfolgreich», betont Jaeger, beim Ziel eines Regimewechsels hingegen kaum.
Es waren auch Sanktionen, welche die atomare Aufrüstung Irans bremsten und das Land 2015 zur Unterzeichnung eines Atomabkommens bewegt hatten, ergänzt Jaeger. Die Sanktionen seien an klare Bedingungen geknüpft gewesen und durch intensive diplomatische Verhandlungen begleitet gewesen. Für Jaeger ist dies als Erfolg zu werten. «Die aktuelle Situation des russischen Angriffskriegs ist natürlich eine andere, schon weil es nicht mehr darum geht, eine mögliche Entwicklung zu verhindern, sondern auf bereits Geschehenes zu reagieren.»
Dennoch: Trotz der generell positiven Einschätzung der Experten, will es die EU genauer wissen. Sie hat einen Auftrag für eine Analyse ausgeschrieben. So will sie herausfinden, wie die Sanktionen wirken und wo es allenfalls noch Anpassungen braucht. (lab/bzbasel.ch)
Es war von Vornherein klar, dass die Sanktionen a) nicht sofoert wirken und b) den Krieg nicht beenden können. Sie können aber den Krieg verkürzen und vllt. ein Umdenken innerhalb der russischen Bevölkerung erwirken.
Die Rezession übrigens wird den Ölpreis fallen lassen.
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