Die Nichtregierungsorganisation Amnesty International dokumentierte seit Beginn der russischen Invasion mehrere Verstösse gegen internationale Menschenrechtsbestimmungen. Sie spricht gar von Kriegsverbrechen (war crime): Es seien besonders schützenswerte Objekte wie Spitäler, Schulen und gar Kindergärten beschossen worden. Zudem gebe es Beweise für den Einsatz verbotener Waffen wie Streumunition. Letzteres berichtet auch die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Amnesty gibt sich in ihren Mitteilungen vorsichtig: Sie kritisiert zwar Russland für seine «Aggression» in der Ukraine und sie wirft dem Kreml vor, internationale Verpflichtungen verletzt zu haben. Von wem welches mutmassliche Kriegsverbrechen begangen wurde, verrät Amnesty aber nicht. Beschuldigungen gibt es hingegen von ukrainischer Seite.
Der staatliche Dienst für Notfallsituationen und damit Kriegspartei spricht von über 2000 getöteten Zivilisten. Aussenminister Dmytro Kuleba bezeichnete das russische Vorgehen als Kriegsverbrechen. Seine Deutung wird von Politikerinnen und Politikern aus anderen Ländern geteilt, so etwa vom britischen Premierminister Boris Johnson.
Weitere bestätigte und unabhängige Informationen zum Vorwurf der Kriegsverbrechen sind rar. Es gibt zwar von verschiedenen Anschlagsorten Augenzeugen-Berichte, die darauf hindeuten, dass bei Raketenangriffen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Zivilistinnen und Zivilisten getötet wurden – so etwa nach dem Luftschlag gegen den Kiewer Fernsehturm, der mindestens fünf Menschenleben kostete. Der Vorwurf der Kriegsverbrechen wiegt aber derart schwer, dass er von internationalen Gerichten beurteilt werden muss.
Russland spricht ebenfalls von Menschenrechtsverletzungen, ja gar von einem «Genozid» (Völkermord). Der Kreml untersucht seinerseits mit einem «Ermittlungskomitee», welche «kriminellen Aktivitäten ukrainische Nationalisten gegen die Zivilbevölkerung» begangen haben sollen.
Alexander Bastrykin, Chef dieser Behörde, warf der Ukraine vor, solche Verbrechen unter falscher Flagge begangen zu haben: Ukrainische Soldaten hätten sich als «Volksmiliz von Luhansk» verkleidet und Zivilisten erschossen oder sie als menschliche Schutzschilde benutzt. Bastrykin bewertet dies als Kriegsverbrechen, ohne seine Vorwürfe öffentlich zu dokumentieren.
Russland wiederholt zudem regelmässig den Vorwurf, die prowestliche ukrainische Regierung würde russische Muttersprachler und Russen vor allem im Osten der Ukraine diskriminieren. Das ist zwar kein Kriegsverbrechen. Im gleichen Atemzug verbreiteten russische Spitzenpolitiker, darunter Kreml-Chef Wladimir Putin und Aussenminister Sergei Lawrow den «Genozid»-Vorwurf. Belege dafür gibt es keine, Lawrow kündigte aber an, diese den Vereinten Nationen liefern zu können und zu wollen.
Wenn international von «Kriegsverbrechen» gesprochen wird, wird auf den Artikel 8 des Römischen Statuts verwiesen. Dort werden Kriegsverbrechen als «schwere Verletzungen der Genfer Abkommen» definiert: Diese seien Taten gegen geschützte Personen (Zivilistinnen und Zivilisten) oder Güter (etwa schützenswerte Infrastrukturen) wie:
Das Römische Statut ist der internationale Vertrag, mit dem der Internationale Strafgerichtshof geschaffen wird.
Die Genfer Abkommen (es sind mehrere) regeln unter anderem den Schutz der Zivilbevölkerung und von Kriegsgefangenen in einem internationalen bewaffneten Konflikt.
Die Schweiz hat die beiden erwähnten völkerrechtlichen Verträge unterzeichnet. Russland hat das Rom-Statut unterzeichnet, aber die Unterschrift zurückgezogen. Die Ukraine hat es auch unterzeichnet, aber nicht ratifiziert.
Zudem gibt es die Streubomben-Konvention, in der die verschiedenen Typen von Streumunition international geächtet werden. Dieses Abkommen wurde weder von der Ukraine, noch von Russland unterzeichnet.
Der Internationale Strafgerichtshof will offizielle Ermittlungen zu potenziellen Kriegsverbrechen in der Ukraine einleiten. Entsprechende Klagen gibt es etwa von Litauen: Das baltische EU- und Nato-Land werde von seinem Recht auf Grundlage des Römisches Statuts Gebrauch machen und den Ankläger des Weltstrafgerichts anrufen, sagte Justizministerin Evelina Dobrovolska. Die nötigen Unterlagen seien bereits vorbereitet und übergeben.
In der Klage werden ausdrücklich die Namen von Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko genannt. Offen ist, wie der Internationale Strafgerichtshof vorgehen wird. Der Chefankläger (quasi eine Art «Staatsanwalt») Karim Ahmad Khan teilte bereits mit, dass sein Gericht deshalb «keine Gerichtsbarkeit über dieses mutmassliche Verbrechen ausüben» könne.
Aktiv wurde auch ein zweites Gericht: Der Internationale Gerichtshof heisst zwar ähnlich wie der Internationale Strafgerichtshof, sie sind aber zwei unterschiedliche Dinge. Dieses zweite Gericht ist das höchste Gericht der Vereinten Nationen, bei denen Russland und die Ukraine offiziell Mitglieder sind. Die Ukraine hat hier einen Dringlichkeitsantrag gestellt, um den Moskauer Vorwurf des «Völkermords an Russen» zu verurteilen und um feststellen zu lassen, dass die Invasion illegal war. Die Anhörung dazu erfolgt bereits nächste Woche: Am Montag wird die Ukraine ihre Position darlegen dürfen, tags darauf folgt Russland.
(pit)
Krieg zu beginnen und zu führen ist bereits ein Verbrechen. Punkt.
Das traue ich ihm durchaus zu.