Schon in ihrer ersten Ausbildungsstelle warnte man S.M., dass die Arbeit belastend werde. Als Assistenzpsychologin machte sie aufsuchende Familientherapie – sie besuchte Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu Hause. Ein Job, der Kraft kostet. Doch nicht die Schicksale der Familien brachten sie an ihre Grenzen, sondern die Bedingungen in der Klinik: 90-Prozent-Pensum, kaum Einarbeitung, 2700 Franken Lohn bei 1000 Franken Ausbildungskosten – pro Monat. Noch in der Probezeit kündigte sie.
S.M. fand eine Stelle bei einer Abklärungsstelle. Ihr Chef hatte einen Namen in der Fachwelt, war auch Ausbildner. Im persönlichen Umgang war er jedoch kaum auszuhalten: ein Choleriker, der Türen zuknallte und um drei Uhr nachts wütende E-Mails verschickte.
Wieder kündigte sie – und fand beim dritten Anlauf eine Stelle in einer Klinik. Eineinhalb Jahre blieb sie dort. Dann kam das Burn-out und mehrere Wochen stationärer Aufenthalt in einer Psychiatrie. Doch die Arbeitsverhältnisse zerrten nicht nur an ihren eigenen Nerven: Kurz vor und während ihrer Krankschreibung verliessen zwei Drittel des therapeutischen Personals die Klinik, darunter die Klinikleitung. Zwei Personen liessen sich mehrere Wochen krankschreiben, eine wies sich ebenfalls in eine Klinik ein.
Geschichten wie die von S.M. sind keine Ausnahme. Das bestätigen mehrere Psychologinnen, mit denen CH Media gesprochen hat. In diesem Artikel werden Psychotherapeutinnen, die Psychologie studiert haben, der Einfachheit halber als Psychologin bezeichnet. Sie sind zu unterscheiden von Psychotherapeutinnen mit einem Medizinstudium im Fachbereich Psychiatrie, welche in diesem Artikel als Psychiaterin bezeichnet werden.
Auch Olenka Dworakowski ist Psychologin. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte sie die Idee, eine Demonstration gegen die Zustände in ihrem Arbeitsbereich zu organisieren. Die Einladung zur ersten Planungssitzung schickten sie in privaten Chats an Bekannte. Sie rechneten mit etwa dreissig Interessierten. Hundertzwanzig tauchten auf.
Die Probleme: allgemeiner Zeitdruck durch lange Wartelisten für Patientinnen und Patienten, verstärkt durch ein ungenügendes Abrechnungssystem, womit die Krankenkassen Kosten sparen wollen. Mails, Recherchen oder die Vorbereitung – alles ist nur zu sehr tiefen Pensen verrechenbar.
Im Kinder- und Jugendbereich sind beispielsweise vier Stunden für den Austausch mit Dritten alle drei Monate vorgesehen. Dazu gehören Eltern, schulische Fachpersonen, Beistände und Ähnliches. «Das reicht überhaupt nicht», sagt Dworakowski. Bei komplexen Fällen erreicht man diese Stunden bereits in einer Woche. Teilweise würden Arbeitgeber die zusätzlichen Stunden als Arbeitszeit verrechnen lassen, oft führen die Fachpersonen die Gespräche aber in ihrer Freizeit, weil ihnen die Kinder am Herzen liegen.
Für S.M. waren diese Abrechnungsprobleme der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Sie bekam Panikattacken und war reizüberflutet, konnte nur noch über die Arbeit sprechen, hatte fast wahnhafte Zustände und weinte in ihrer Freizeit andauernd. Als sie ihrem Team ihre Krankschreibung mitteilte, waren die Reaktionen fast zu verständnisvoll. «Die leitende Oberärztin sagte mir, alle hätten ihr persönliches Päckchen zu tragen, deshalb kämen Krankschreibungen oft vor», erzählt S.M. «Aber wenn Mitarbeitende regelmässig krankgeschrieben werden, liegt das Problem nicht bei allen auf individueller Ebene. Dann liegt das Problem im System.»
Gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie besteht seit 10 Jahren eine Unterversorgung mitpsychologischer und psychiatrischer Hilfe. Lange Wartezeiten gebe es vor allem im Kinder- und Jugendbereich sowie bei Erwachsenen im ländlichen Bereich, bei schwer kranken Personen und in Notfallsituationen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber gemäss einer Umfrage der Demonstrationsorganisation unter 411 psychotherapeutisch tätigen Personen haben 30 Prozent der Befragten eine Wartezeit von 3 bis 6 Monaten. 13 Prozent führen nicht einmal mehr Wartelisten.
Schlechte Arbeitsbedingungen wirken sich auch auf Patientinnen und Patienten aus: «Es lohnt sich, selbstständig zu arbeiten, weil die Arbeitsbedingungen dort oft besser sind. In den Kliniken fehlt deshalb gutes Personal, worunter die Grundversorgung leidet», sagt Dworakowski.
Die Demonstration, die am 16. August in Bern stattfindet und von der Gewerkschaft VPOD, den Parteien SP und Grüne sowie Vereinen wie Pro Mente Sana unterstützt wird, fordert deshalb konkrete Verbesserungen: kostendeckende Vergütung durch die Krankenkassen. Realitätsnahe Abrechnungsmodelle. Der Abbau bürokratischer Hürden bei Kostengutsprachen. Solidarität mit Betroffenen. Eine Beteiligung der Kantone an Ausbildungskosten.
Letztere gehören zu den Hauptanliegen: Die Therapieausbildung, welche nach dem Masterstudium gemacht wird und für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Pflicht ist, muss aus eigener Tasche bezahlt werden. Die vier Ausbildungsjahre kosten 50’000 Franken. Nur der Kanton Basel-Stadt subventioniert die Ausbildung. Dabei verdienen viele Assistenzpsychologinnen und -psychologen weniger als 3000 Franken. Gemäss Dworakowski müssen einige aus finanziellen Gründen wieder bei den Eltern einziehen – andere brechen die Ausbildung ab oder fangen gar nicht erst an.
Das Problem ist seit langem bekannt, Verbesserungen gab es erst nach langen Verhandlungen. 2022 gelang ein Durchbruch: Psychologinnen und Psychologen können seither selbstständig über die Krankenkassen abrechnen, statt über eine delegierende Psychiaterin oder einen Psychiater. Der Sitzungstarif wurde provisorisch auf rund 155 Franken festgelegt.
Dadurch rechnen mehr Psychologinnen und Psychologen über die Grund- statt Zusatzversicherung ab. Vor der Einführung rechnete der Bundesrat mit Mehrkosten von 100 Millionen Franken jährlich. Ein Monitoringbericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) weist nun 175 bis 200 Millionen aus, bereinigt um Bevölkerungszuwachs und Kostenverschiebungen sind es 50 bis 55 Millionen. Der ehemalige Krankenkassenverband Santé Suisse berechnete die Mehrkosten auf 350 Millionen. Diese Zahl ist wahrscheinlich nicht bereinigt, die Methodik wurde nicht veröffentlicht. Gemäss Prio Swiss, der die Arbeit von Santé Suisse übernommen hat, geht die Differenz auf eine breitere Untersuchungsperiode zurück. Das BAG hingegen sagt, dass die Differenz nicht erklärt werden könne.
Ungeachtet der Unsicherheiten argumentieren Versicherungen und einige Politiker mit der höheren Zahl von Santé Suisse. Sie wollen den Tarif von 155 auf 140 Franken senken und Rückzahlungen seit 2022. Eine Motion der Sozial- und Gesundheitskommission des Nationalrats verlangt zudem eine Kostengutsprache nach 15 statt 30 Sitzungen, um Therapien zur «Persönlichkeitsreifung» nicht über die Grundversicherung zu finanzieren. Dagegen ist nur eine Minderheit aus SP, Grünen und Grünliberalen.
«Mehr Menschen suchen Hilfe aus starkem psychischen Leiden – nicht zur Persönlichkeitsreifung», sagt Dworakowski. Die neuste Schweizerische Gesundheitsversorgung zeigt einen Anstieg der psychischen Probleme von 15 Prozent im Jahr 2017 auf 18 Prozent im Jahr 2022. Zehn Prozent der Bevölkerung weisen mittelschwere bis schwere Depressionssymptome auf.
«Wenn die Motion und die Tarifsenkung zustande kommen, wäre das eine Katastrophe», sagt Dworakowski, «das ist genau das Gegenteil von dem, was wir fordern.» Fünfzehn Sitzungen würden bei Kindern und Jugendlichen höchstens für die Kennenlernphase reichen. Bei sinkenden Tarifen droht, dass sich immer mehr Psychologinnen und Psychologen aus dem Kassensystem verabschieden. «Dadurch könnte ein Zweiklassensystem entstehen, in dem sich nur noch Wohlhabende psychologische Gesundheitsversorgung leisten können», sagt Dworakowski.
S.M. ist inzwischen im letzten Jahr ihrer Ausbildung. Ihr Burn-out hat sie überstanden, doch sie hat ihre vierte Stelle in vier Jahren. Gedanken ans Aufhören begleiten sie. «Eigentlich bin ich gerne Therapeutin», sagt sie. Politisch aktiv werden, dafür fehlt ihr die Kraft. Aber sie unterstützt die Forderungen der Demonstrierenden.
«Man sollte nicht so weit kommen wie ich, wo nichts mehr geht.» In der Klinik, in der sie zur Erholung war, beobachtete sie dieselben krank machenden Zustände. Fünfzehn Personen kümmerten sich um ihre Genesung. «Das hat Unsummen gekostet – viel mehr, als einfach für gesunde Arbeitsbedingungen zu sorgen.» (aargauerzeitung.ch)
Liegt das an der steigenden Bevölkerungszahl? Oder dem Hamsterrad vom Kapitalismus, das (in meinen Augen) je länger je mehr ausgedient hat?
Für mich persönlich war es gut so (wenn auch 25k Weiterbildungskosten in den „Sand gesetzt“ sind), für das System ist das aber verheerend - vor allem, da immer mehr diesen Weg wegen den schlechten Bedingungen abbrechen oder gar nicht erst einschlagen.