Das russische Szenario des atomaren Schreckens ist eindrücklich. Und unverhohlen bringt Wladimir Putin immer wieder das atomare Potenzial ins Spiel. 5997 Atomwaffen stehen den Russen im Gesamten zur Verfügung – atomare Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen, U-Booten, Flugzeugen und Bodenstationen.
Dabei zeigt sich, dass das Schreckpotenzial der Russen grösser ist als jenes der USA. Die unausgewogene Bilanz sei nicht überraschend, sagt dazu Alexander Bollfrass, Militärexperte an der ETH Zürich.
Zwar hätten die beiden Grossmächte Rüstungskontrollvereinbarungen abgeschlossen, welche die Beziehungen stabilisieren sollten. «Leider sind diese ausgleichenden Abkommen in die Brüche gegangen», sagt Bollfrass. Er arbeitet am Center for Security Studies (CSS).
Zurzeit gibt es nur noch das NEW-Start-Abkommen. Das begrenzt aber nur die Atomwaffen mit interkontinentaler Reichweite. «Für die nicht-strategischen Waffen, die Russland einsetzen würde, wenn es die Ukraine angreifen wollte, gibt es keine Begrenzung», sagt Bollfrass.
Nicht-strategisch bedeutet in der Militärsprache, dass diese Atomwaffen nicht direkt auf ein Ziel gerichtet sind, sondern taktisch und schnell gegen irgendwelche Ziele eingesetzt werden können.
Genau die Modernisierung und Erweiterung dieser nicht-strategischen Atomwaffen durch Russland hat der US-Direktor of National Intelligence diese Woche in einer Liste der weltweit grössten Bedrohungsszenarien aufgereiht.
Dass Russland generell mehr Atomwaffen hat als die USA hält Bollfrass aber nicht für entscheidend. «Erstens haben die Waffen der Russen eine kürzere Lebensdauer. Zweitens kommt es viel mehr darauf an, wie effektiv diese Waffen durch Raketen und Bomben eingesetzt werden können.» Bollfrass fügt an:
Beide Arsenale reichten aus, um den Ländern der jeweils anderen Seite katastrophale Schäden zuzufügen.
Erschreckend ist dabei, wie schnell die Russen Atomwaffen einsetzen könnten. Im Allgemeinen wären die strategischen Nuklearsysteme, die auf die USA gerichtet sind, innerhalb weniger Minuten einsatzbereit.
Etwas länger dauert es bei den taktischen Atomwaffen, die gegen die Ukraine oder osteuropäische Nato-Mitglieder eingesetzt werden könnten. «Sie wären höchstwahrscheinlich innerhalb weniger Stunden einsatzbereit», erklärt Bollfrass. Das sei aber eine Spekulation, die Russen hielten sich bei Informationen zur Vorgehensweise mit Atomwaffen bedeckt.
In den vergangenen Jahren hat Russland sein Atom-Arsenal stark modernisiert. Nur noch etwa 10 Prozent stammt aus der Zeit der Sowjetunion. Allerdings seien die Raketen und Flugzeuge, welche die Atomsprengköpfe abschiessen, oft «erstaunlich alt». Das gilt vor allem für Russland, aber auch für die USA.
Die Flugzeuge und Raketen stammen oft noch aus dem Kalten Krieg. Hoffnungen, dass Putins Atomwaffen deshalb nicht funktionieren könnten, muss man sich nicht machen. «Solange sie ordnungsgemäss gewartet werden, ist das Alter kein Problem für Russlands Nuklearstreitkräfte», sagt der Militär-Experte.
Gegen Putins Atomwaffen hat die Ukraine, wie alle anderen Länder in Europa keinen Schutz. «Wenn Putin seinem Militär befehlen würde, einen nuklearen Sprengkopf auf eine der vielen Raketen zu platzieren, die es bereits auf die Ukraine abschiesst, würde dieser dort explodieren», sagt Bollfrass. Das könne niemand verhindern.
Putin würde dafür wahrscheinlich einen Iskander nutzen, der die Raketen von einem Fahrzeug aus abfeuert, oder vom Meer von einem U-Boot oder Schiff aus einen Marschflugkörper einsetzen.
Noch im Juni 2020 hat Putin offiziell in einer Doktrin erklärt, dass er Atomwaffen ausschliesslich als Mittel der Abschreckung einsetzen würde. Ob diesen russischen Grundprinzipien der nuklearen Abschreckung noch zu trauen ist, weiss man nicht. Zwar könnten Nuklearstrategien und -doktrinen viel darüber verraten, wie eine Regierung ihre Atomwaffen sieht.
Der Einsatz von solchen Waffen sei aber grundsätzlich eine politische Entscheidung. Der ETH-Experte sagt: «Wenn Putin den Ukrainern signalisieren will, dass er vor nichts zurückschreckt, oder der Nato, dass sie mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine eine rote Linie überschritten hat, könnte ihn nichts aufhalten ausser seinem Gewissen und der Angst vor Vergeltungsmassnahmen der Nato.»
Und Russland verbreitet nicht nur mit den bestehenden Atomwaffen Angst und Schrecken. Sie erwähnen auch eine Horrorwaffe namens Poseidon. Das ist ein Langstreckentorpedo, der nach russischen Angaben Gebiete mit weitreichender nuklearer Verseuchung schaffen soll. «Einige der neuen russischen Atomwaffen sehen aus wie bizarre Wissenschafts-Experimente», sagt Bollfrass. Deren Zweck ist es, die amerikanische Raketenabwehr zu überwinden.
In Wirklichkeit biete weder ein bestehendes noch ein geplantes amerikanisches Raketenabwehrsystem Schutz auch nur gegen die ältesten russischen Atomwaffen. Die Rede davon, dass Putins Abschreckung nicht reichen würde, sei russische Paranoia. Diese treibe Putin voran.
Die bestehenden Atomwaffen sind schon schrecklich genug. Wie stark, hängt von ihrer Sprengkraft und dem Ziel, auf das sie gerichtet sind. «Die nicht-strategischen oder taktischen Waffen, die Russland in der Ukraine einsetzen würde, wären in etwa so verheerend wie die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki», sagt Bollfrass.
Noch viel gewaltiger wären die strategischen Atomwaffen, welche Russland gegen die Vereinigten Staaten einsetzen könnte.
Die Sprengkraft Putins Atomwaffen wären wohl mit jenen in Hiroshima und Nagasaki zu vergleichen. Die Betroffenheit der Schweiz hänge dann von verschiedenen Faktoren ab, sagt Alex Bollfrass. Der wichtigste Faktor wäre dabei das Wetter.
Die Schweiz wäre nicht unmittelbar von der Sprengkraft betroffen, sondern nur vom radioaktiven Fallout. «Ganz grob gesagt, wären die Auswirkungen auf die Schweiz wahrscheinlich in der gleichen Grössenordnung wie die von Tschernobyl: gering, aber lang anhaltend», sagt Bollfrass von der ETH Zürich.
Stellt sich zum Schluss die Frage, ob Putin wahnsinnig genug ist, seine Atomwaffen auch einzusetzen. Das sei die Hauptfrage, sagt Bollfrass. Es gebe keinen Grund zu glauben, dass sich Putin fundamental verändert habe. «Die Invasion basierte auf falschen Annahmen über die ukrainische Gesellschaft und die Streitkräfte, und die Reaktion des Westens war stärker als erwartet», sagt der ETH-Forscher.
Es gebe mehrere Wege aus der schwierigen Situation, die auch ohne Atomwaffen schon eine Katastrophe für die Ukrainer seien. Jeder Einsatz von Atomwaffen mache es noch schwieriger. Falls Putin Atomwaffen braucht, würde das den Ukrainern zeigen, dass er den Krieg auf keinen Fall stoppen will und der Nato, dass sie die Unterstützung der Ukraine beenden soll. «Aber das ist wirklich eine unwahrscheinliche Möglichkeit, die den Russen mehr Probleme bereiten als lösen würde», sagt Alexander Bollfrass.
Bei der Explosion kommt es zu einer Freisetzung von Energie durch die Spaltung von Atomen. Wenn ein Atom gespalten wird, spaltet es auch die benachbarten Atome, wodurch eine Kettenreaktion ausgelöst wird. Diese setzt enorme Energie frei. Damit dies funktioniert, müssen die Atome dicht aneinander gepackt sein, weshalb bestimmte Arten von Plutonium oder Uran für Atomwaffen benötigt werden.
Die Kettenreaktion wird ausgelöst, indem die Plutonium- oder Uranatome durch den Einsatz von konventionellem Sprengstoff enger zusammengedrängt werden. (aargauerzeitung.ch)