Die Szenerie ist beinahe schon unglaublich, aber geschickt in Szene gesetzt. In einer Metro-Station in Kiew interviewt US-Talkmaster David Letterman vor Publikum den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Immer wieder rumpeln U-Bahnzüge vorbei. Dann heulen nach wenigen Gesprächsminuten die Luftschutzsirenen auf.
Fassungslos fragt Letterman seinen Gast, was sie jetzt tun müssten. «Nichts!», antwortet der Präsident und lacht. Letterman antwortet: «Unter allen anderen Umständen wäre ich jetzt beunruhigt, aber hier mit ihnen bin ich es nicht.»
Die 25. Folge von Lettermans Netflix-Talkshow «My next Guest» ist bestimmt die verrückteste – aber auch die gewichtigste. Seit Montag ist sie im Streamingdienst aufgeschaltet. Im Oktober reiste der 75-jährige US-Starmoderator mit seinem Team von Warschau aus per Zug in die Ukraine und führte neben dem rund 40-minütigen Präsidenten-Interview während Wochen auch zahlreiche Gespräche mit der Bevölkerung.
Entschlossen bekräftigt Selenskyj im Interview, dass der Krieg erst zu Ende sein wird, wenn die Ukraine sämtliche Gebiete zurückerobert hat und die Grenzen wiederhergestellt sind. Den Konflikt bloss einzufrieren, wäre gegenüber der eigenen, zutiefst opferbereiten Bevölkerung unehrlich. Für die Abkürzung des Krieges sei «mächtige Hilfe» aus dem Ausland nötig.
Die russische Bevölkerung hält Selenski dagegen für feige, weil sie die Gehirnwäsche des Kreml-Regimes nicht hinterfragt, die Wahrheit über den Krieg gar nicht erst wissen will, Putin alles glaubt und sich in den eigenen vier Wänden verkriecht. «Es gibt aber auch jene, die die Wahrheit kennen und einfach Schiss haben.» Trotzdem dürfe man den Feind nicht hassen, denn dies mache den Unterschied aus, ob man im Krieg Mensch bleiben könne oder zum Tier werde.
Ohne Putin würde der Krieg nicht weitergehen, gibt sich Selenski im weiteren Gesprächsverlauf überzeugt, denn im totalitären Russland verfüge er über die absolute Macht. Eine demokratische Wende bei seinen Feinden könne es erst geben, wenn «die Russen merken in welcher Isolation sie sich befinden».
Der einzige Weg aus dieser Isolation sei, das internationale Recht zu achten, denn inzwischen wolle «niemand mehr mehr mit Russland etwas zu tun haben, nicht im Sport und nicht in der Kultur». Den Russen nicht mehr die Hand zu reichen, und zwar in jedem Sinn des Wortes, ist darum laut Selenski die einzige richtige Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft.
Neben diesen Standpunkten zum Krieg entlockt der 75-jährige, inzwischen langbärtige Starmoderator in bewährter Talkmanier auch viel Persönliches. Es wird zwischendurch gefeixt und viel gelacht, selbst einen Witz gibt Selenskyj zum Besten. «Das Lachen hilft uns, nicht verrückt zu werden», erklärt er, «wie zu Sowjetzeiten verleiht uns der Humor die Inspiration weiterzuleben und unsere Kinder aufzuziehen.»
Fünf Wochen nach dem Interview fragt Letterman aus New York per Videocall nach. Die schweren russischen Raketenangriffe auf die ukrainischen Städte und Energieversorgungseinrichtungen dauern an. Dem russischen Präsidenten, er nennt Putin nie beim Namen, wirft Selenskyj in seinem Schlussstatement einen schweren Rechenfehler vor.
«Je mehr er unsere Würde und Integrität angreift, und zwar unfair angreift, desto mehr wollen die Menschen der Ukraine siegen, um ihre Integrität zu bewahren.» 98 Prozent aller Ukrainerinnen und Ukrainer würden lieber ohne Strom und Wasser bleiben, als von Russland besetzt, sagt Wolodymyr Selenskyj im Brustton der Überzeugung.