Walter Laqueur gilt als ein führender Russlandkenner. Gleich zu Beginn seines neuen Buches «Putinismus» stellt er, offensichtlich irritiert, die Frage: Warum gibt es im Westen immer noch linke Putin-Fans? Und fügt hinzu: «Die extreme Rechte in Europa hat die Wechsel in Russland viel schneller verstanden und ihre Propaganda dementsprechend angepasst.»
Auch in der Schweiz ist es vor allem die rechtslastige «Weltwoche», die immer wieder grosses Verständnis für Putin an den Tag legt. Noch weiter geht ein Artikel von Olivier Kessler in der «Schweizerzeit». Darin stellt der aufstrebende Star der extremen Rechten – er ist unter anderem der Initiator der «No Billag»-Initiative – die Verhältnisse des kalten Krieges auf den Kopf.
Die USA sind gemäss Kessler ein sozialistischer Wohlfahrtsstaat geworden, während der russische Staatskapitalismus zum liberalen Paradies mutiert ist. «Die meisten Reformen seit dem Zusammenbruch der UdSSR haben mehr Freiheit, mehr Privatisierung und mehr wirtschaftliche Öffnung gebracht», schreibt Kessler. Kein Witz, er meint das ernst.
Zeit also, die Dinge wieder an den richtigen Ort zu rücken. Eines stellt Laqueur klar: «Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat es in den letzten Jahren eine massive Verschiebung in der Ideologie des russischen Regimes gegeben»:
Um das moderne Russland zu verstehen, müssen wir zunächst zurückblenden. Nach dem Zerfall der UdSSR herrschte Chaos und Armut. Die Bürger erhielten so genannte Voucher, die sie gegen Aktien der ehemals staatlichen Unternehmen eintauschen konnten. Das Verfahren war kompliziert, der durchschnittliche Russe hatte keine Ahnung von Marktwirtschaft und wurde übers Ohr gehauen.
Die Privatisierung der russischen Wirtschaft war wohl einer der grösste Raubzüge in der Geschichte der Menschheit. Eine Handvoll Oligarchen rissen sich das Volksvermögen unter den Nagel und benutzten dabei den damaligen Präsidenten Boris Jelzin als nützlichen Idioten. Beim gewöhnlichen Volk hingegen bleibt bis heute der Eindruck zurück: Westliche Demokratie ist gleichbedeutend mit Chaos und organisierten Verbrechen – und das russische Volk wurde verraten und betrogen.
Unter diesen Verhältnissen wurde Wladimir Putin zunächst Premierminister von Russland. Er war damals sowohl zuhause wie auch im Ausland noch gänzlich unbekannt. Doch der ehemalige Geheimdienstmann nutzte die Gunst der Stunde und ging entschlossen gegen die Oligarchen vor. Diese waren unermesslich reich, sie waren aber auch im Volk verhasst und besassen keine politische Machtbasis.
Das nutzte Putin geschickt aus. Er vertrieb den sehr mächtigen Boris Beresowski nach London – inzwischen hat dieser Selbstmord begangen – und warf Michail Chodorkowski ins Gefängnis. Jener wurde inzwischen wieder frei gelassen und lebt heute in Rapperswil.
Die übrigen Oligarchen erwiesen sich als lernfähig und arrangierten sich mit Putin. Das zahlte sich für sie aus. Roman Abramowitsch beispielsweise hat sich mit einem geschätzten Vermögen von 10 Milliarden Dollar nach London abgesetzt und frönt dort seinem Hobby, dem FC Chelsea.
Wiktor Wekselberg, geschätztes Vermögen 15 Milliarden Dollar, besitzt heute nicht nur immer grössere Teile von Sulzer, sondern auch die grösste Sammlung der sehr wertvollen Fabergé-Eier. Über den Reichtum von Putin selbst gibt es die wildesten Spekulationen. Einige bezeichnen ihn als den reichsten Mann der Welt mit einem Vermögen von mindestens 70 Milliarden Dollar.
Putin – inzwischen Nachfolger von Jelzin im Präsidentenamt – sichert seine Macht jedoch nicht mit Geld, sondern mit seinen ehemaligen Kumpels aus dem russischen KGB, der heute FSB heisst. Die so genannten Silowiki bilden eine Art Prätorianergarde aus Geheimdienstleuten, die dem Präsidenten loyal ergeben sind und ihn abschirmen.
Nicht, dass Putin derzeit etwas vom Volk zu befürchten hätte. Wie Meinungsumfragen immer wieder zeigen, ist er äusserst beliebt. Sein Macho-Image kommt an. Kein Wunder: Rund die Hälfte der Russen bewundert nach wie vor Josef Stalin, trauert dem verlorenen Imperium nach und fühlt sich vom Westen verraten. Der begeisterte Judo-Kämpfer Putin – er trägt den schwarzen Gurt – wird geradezu verherrlicht.
Grossen Zulauf haben auch Nationalisten und Blut-und-Boden-Philosophen wie Alexander Dugin. In der ehemaligen Sowjetunion gehörte er einer Gruppierung an, deren Vorbild die deutsche SS war. Später wandte er sich vom Faschismus ab, ein Hassprediger ist er jedoch geblieben. (Es gibt mehrere Video-Clips von Dugin auf YouTube, und es lohnt sich, da mal reinzuschauen, beispielsweise in diesen.)
Dugin gehört heute zu den am meisten beachteten Intellektuellen Russlands. Seine Thesen fasst Laqueur wie folgt zusammen: «Konstante Faktoren seiner Ideologie sind Anti-Globalisierung, Anti-Liberalismus, Anti-Amerikanismus, Okkultismus, Eurasianismus (die Betonung der östlichen Werte gegenüber den westlichen, Anm. d. Red.), Geopolitik, die Vorstellung, dass die Weltpolitik von geheimen Kräften bestimmt wird, und die Verbreitung des Mythos von der russischen Grossmacht.»
Auch die orthodoxe Kirche, im Sowjetkommunismus unterdrückt, spielt im neuen russischen Nationalismus wieder eine zentrale Rolle. «Die Kirchenmänner wurden nie Kommunisten», stellt Laqueur fest. «Aber viele ehemaligen Kommunisten haben den Weg zur Kirche wieder gefunden.» Vor allem im Wertekrieg gegen den dekadenten Westen – beispielsweise bei der Hatz auf Homosexuelle – sind die orthodoxen Popen verlässliche Partner Putins.
Als gigantischer Putin-Fanclub hat die russische Politik keine Zukunft. Das weiss auch der Präsident. Zur geistigen Erbauung verschickte er an Weihnachten 2013 deshalb an alle Gouverneure und wichtigen Politiker des Landes drei Bücher. Eines hat Wladimir Solowjow verfasst, ein Vordenker des Eurasianismus. Das zweite stammt von Nikolai Berdjajew, einer Art russische Antwort auf die ultra-libertäre Ayan Rand.
Interessant ist vor allem das dritte Buch. Es trägt den Titel «Unsere Aufgabe» und wurde von Iwan Iljin verfasst. Er wurde in Moskau 1883 in die besseren Kreise des damals zaristischen Russlands geboren und musste nach der Revolution nach Berlin fliehen. Ilyin war ein grosser Kommunistenhasser. Sein Berliner Büro befand sich im Gebäude des Propagandaministerium von Joseph Goebbels und er war Hitler sehr wohlwollend gesinnt, weil dieser energisch gegen die Kommunisten vorging.
Trotzdem wurde Lljin 1934 von der Gestapo des Landes verwiesen. Er reiste in die Schweiz, wo er 1954 verstarb. Putin persönlich ordnete an, dass seine sterblichen Überreste 2005 in ein russisches Kloster überführt wurden. Seine Bücher – rund 30 an der Zahl – sind in den letzten Jahren neu aufgelegt worden.
Was macht Ivan Ilyin für Putin so interessant? «Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er für Monarchie und einen autoritären (aber nicht totalitären) Staat einsteht», schreibt Laqueur.
Genau ein solcher Staat, eine «geleitete Demokratie», und ein neues russisches Imperium scheint auch Putin anzustreben. Es ist daher kaum ein Zufall dass Iljin der einzige Intellektuelle ist, den Putin mehrfach in seinen Reden erwähnt hat. 2009 hat er Blumen an seinem Grab niedergelegt.
Wie gefährlich ist Putins Russland für den Westen? Laqueur verweist auf das Beispiel von Deutschland, das nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg rasch wieder zu einer militärischen Grossmacht aufgestiegen war. Auch Putin rüstet derzeit massiv auf: Die russischen Militärausgaben haben sich zwischen 2007 und 2014 verdoppelt, diejenigen der Nato haben sich derweil halbiert.
Putin kann sich auch auf eine lange reaktionäre Tradition stützen. Russland war niemals ein liberales Land. Im 19. Jahrhundert gehörten die Zaren zu den militantesten Vertretern der Gegenrevolution, die jegliche bürgerliche Freiheiten im Keim erstickten und die Leibeigenschaft erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts abschafften. Die «geleitete Demokratie» und die Grossmachtsträume stossen deshalb auch heute bei den Russen auf viel Verständnis.
Das moderne Russland hat jedoch auch Schwächen. Die Bevölkerung nimmt ab. Die russischen Frauen haben durchschnittlich bloss 1,6 Kinder. Um die Bevölkerungszahl konstant auf dem gegenwärtigen Stand von 143 Millionen zu halten, wäre eine Rate von 2,1 Kindern pro Frau nötig. Hält der Trend weiterhin an, so wird die Bevölkerung bis 2050 auf 109 Millionen Menschen schrumpfen. Die Stimmung ist zudem mies:
Der grosse Schwachpunkt liegt anderswo. Putin hat es nicht geschafft, die russische Wirtschaft zu modernisieren. Die Einkünfte stammen zum grössten Teil aus Rohstoffen, vor allem Öl und Gas. Der Einbruch des Ölpreises setzt Russland hart zu, und es ist fraglich, ob die Wünsche der Bevölkerung noch zu finanzieren sind. «Die Russen wollen beides, eine Grossmacht und ein gutes Leben», schreibt Laqueur. «Das mag verständlich sein –, aber kann es auch kombiniert werden?» Die Frage ist berechtigt, zumal die Annektion der Krim nicht nur kostspielig ist, sondern auch westliche Sanktionen nach sich gezogen hat.
Russland ist heute ein Paradox: Ein Land, das gleichzeitig mit seiner ideellen und militärischen Überlegenheit gegenüber dem Westen prahlt, aber selbstmitleidig über den Verlust eines Imperiums klagt. Ein Land, in dem ein neuer Faschismus des Westens angeprangert wird, aber gleichzeitig kritische Intellektuelle unterdrückt und ermordet werden.
Warum also ist dieses Land immer noch für einen Teil der Linken attraktiv? «Teilweise ist es schlicht Ignoranz», lautet die Antwort von Walter Laqueur. «Teilweise ist es die Weigerung, die russische Entwicklung anzuerkennen und teilweise ist es Wunschdenken.»