Trotz massiver Angriffe im Osten der Ukraine kommt die russische Invasion kaum voran. Präsident Putin muss seine Strategie anpassen, ihm gehen langsam die Soldaten aus. Verschiedene Szenarien sind denkbar.
Es ist ein wichtiger Tag, besonders für das russische Militär: Am 9. Mai feiert Russland den «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland, normalerweise mit einer grossen Militärparade in Moskau. In diesem Jahr fällt sie vergleichsweise kleiner aus – mit weniger Soldaten, Panzern und Raketenwerfern als üblich. Der Grund: Viele russische Soldaten und militärisches Gerät sind durch den Ukraine-Krieg gebunden.
Zu feiern gibt es aber ohnehin wenig für die russische Armee. In der Ukraine musste sie in über zwei Monaten Krieg bislang viele Rückschläge einstecken. Das setzt Präsident Wladimir Putin unter Druck.
Wahrscheinlich hatte der Kreml-Chef damit gerechnet, am 9. Mai zumindest die Einnahme der strategisch wichtigen Hafenstadt Mariupol verkünden zu können. Aber auch das steht nicht fest: Trotz russischer Grossangriffe auf das Asow-Stahlwerk halten die Verteidiger weiterhin stand. So wird der «Tag des Sieges» – wie von Aussenminister Sergej Lawrow angekündigt – keinen grossen Einfluss auf den Krieg in der Ukraine haben. Das ist auch ein Eingeständnis des bisherigen Scheiterns.
Putin steht nun vor der Herausforderung, gleichzeitig militärische Fortschritte erzielen zu müssen und eigene Verluste dabei zu minimieren. Er braucht einen Strategiewechsel, mehr Soldaten und plötzlich ist auch wieder das Undenkbare möglich: der Einsatz taktischer Nuklearwaffen.
Die russische Armee verfolgt in der Ukraine aktuell zwei strategische Ziele: Erstens möchte Moskau die ukrainischen Truppen möglichst weit im Donbass zurückdrängen, um die Oblasten Donezk und Luhansk komplett zu erobern und damit die von Russland anerkannten «Volksrepubliken» auszuweiten.
Im Süden dagegen geht es für Putins Truppen vor allem darum, den Brückenkopf in Cherson zu halten. Dort gibt es schwere Kämpfe, aber vorerst hat Russland zu wenig Kräfte, um weiter westlich in Richtung Odessa vorrücken zu können.
Allgemein gehen die russischen Verbände bei ihrer zweiten Offensive taktisch anders vor als noch zu Kriegsbeginn. Panzergruppen rücken meistens zusammen mit Infanterie vor und Russland setzt ukrainische Stellungen massiv unter Artilleriebeschuss. Man nimmt die ukrainische Verteidigung nun scheinbar ernster und versucht, so gut es geht, die Flanken der angreifenden Verbände zu schützen.
1/ Analyzing Breakthrough Operations in the Donbas. Today I take a little closer look at the state of operations along the line of operations ranging from Izium to Popasna in east Ukraine to gain a better understanding of what it will take to achieve a decisive breakthrough. pic.twitter.com/JSZOdPpFWJ— Jomini of the West (@JominiW) May 4, 2022
Die Folge: Die russische Armee rückt nur sehr langsam vor und die Ukraine hat stellenweise genug Zeit, um sich neu zu gruppieren und erfolgreich Gegenoffensiven zu starten.
Putin steckt in der Ukraine auch in einem zunehmenden Dilemma. Es gilt als unwahrscheinlich, dass seine Armee mit der jetzigen Anzahl an Soldaten und Geräten seine Kriegsziele erreichen kann. Russland kann die Ukraine damit garantiert nicht völlig erobern, wahrscheinlich können grosse Städte wie Charkiw auch nicht eingenommen werden. Deshalb muss der russische Präsident seine Strategie ändern oder seine Ziele anpassen.
Was ist wahrscheinlicher? Folgende Szenarien sind möglich:
Mit Abstand am wahrscheinlichsten ist, dass der Ukraine-Konflikt zu einem langen Abnutzungskrieg wird. Das bedeutet: Es gibt über Monate oder Jahre immer wieder abwechselnd russische Angriffswellen und operative Pausen. Schon jetzt gibt es im Osten des Landes viele grössere Feldschlachten, bei denen es Moskau momentan nicht um schnelle Eroberungen geht, sondern um die Zerstörung der ukrainischen Kräfte und Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung. Deshalb sind weitere Eskalationsstufen in diesem Szenario wahrscheinlich.
Die Stärke der russischen Armee liegt vor allem in der Schlagkraft der Artillerie und in der Schnelligkeit der mechanisierten Verbände. Diese Stärken möchte die russische Militärführung nun scheinbar ausspielen und setzt darauf, dass Russland über längeren Zeitraum mehr Soldaten und Gerät nachlegen kann als die Ukraine.
Damit würde Putins Soldaten eventuell der verlustreiche Kampf um ukrainische Grossstädte erspart bleiben, denn bei einem Abnutzungskrieg geht es vor allem darum, das militärische Kräfteverhältnis so stark zu den eigenen Gunsten zu verschieben, dass die Verhandlungsposition besser wird. Laut Lawrow wird es am Ende eine Verhandlungslösung mit der Ukraine geben. Die gegenwärtige militärische Situation legt nahe, dass zumindest keine Offensive gegen die ganze Ukraine geplant ist.
Trotzdem bleibt es für Putin ein Drahtseilakt: Russland muss für einen erfolgreichen Abnutzungskrieg die westlichen Waffenlieferungen unterbinden. Das wird mit Angriffen auf Schienen und andere Infrastruktur zwar schon versucht, aber bislang ohne grossen Erfolg.
Ausserdem hat die russische Armee zwar mutmasslich genug konventionelle Waffen und Munition, aber Putin gehen die Soldaten aus. Das heisst, er müsste zwangsläufig über eine offizielle Kriegserklärung gegen die Ukraine und über eine Teil- oder eine Generalmobilmachung in Russland nachdenken. Damit könnte Russland dann zwar auf bis zu zwei Millionen Reservisten zurückgreifen, es wäre gleichzeitig aber auch ein Eingeständnis des Versagens der eigenen Armee.
Der Einsatz von taktischen – also kleineren – Atomwaffen wird laut russischen Oppositionellen durchaus in Moskau diskutiert. Putin will um jeden Preis einen Sieg erringen oder zumindest einen Teilerfolg in der Ukraine erzielen, den seine Propaganda dann als Sieg verkaufen kann. Bisher gibt es diesen Erfolg nicht.
Der Einsatz von strategischen Atomwaffen würde wahrscheinlich zu einer schnellen Aufgabe der Ukraine führen und wäre vor allem dann denkbar, wenn Putin keinen anderen Ausweg mehr sieht. Für diesen Fall haben Länder wie die USA schon angekündigt, dass sie nicht unbedingt in der Ukraine intervenieren würden. Das steigert natürlich auch die Versuchung im Kreml.
Egal wie gross die Atombombe ist, ihr Einsatz wäre eine Katastrophe und komplett irrational. Anderseits haben Experten das auch vor dem 24. Februar über einen russischen Angriff auf die Ukraine gesagt. Letztlich würde dieses Szenario Russland international noch mehr ächten und selbst für Staaten wie China würde es unmöglich werden, das Putin-Regime weiter zu stützen.
Moskau hat immer betont, dass Russland Atomwaffen nur bei einer existenziellen Bedrohung für das Land einsetzen würde. Die Frage ist nur, ob Putin eine existenzielle Bedrohung für Russland mit der Bedrohung seiner Macht gleichsetzt.
Das vorherige Szenario eines Abnutzungskriegs ist jedenfalls deutlich wahrscheinlicher. Bislang sind die Übungen der russischen Atomstreitkräfte in Kaliningrad eher als Drohung und Säbelrasseln gegenüber dem Westen zu werten.
Es ist das Szenario, vor dem Geheimdienste und Diplomaten derzeit sogar öffentlich warnen: eine Eskalation nach dem Modell der Krim-Annexion, nur ein paar Nummern grösser – und gefährlicher. Putin könnte die von Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine zu russischem Staatsgebiet erklären. Und zwar so, wie er das 2014 mit der Krim gemacht hat: per manipulierter Volksabstimmung.
Der US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael Carpenter, hatte zuletzt öffentlich über entsprechende Hinweise auf solche Volksabstimmungen dort gesprochen. Datum für eine solche Operation könnte laut Informationen der «Süddeutschen Zeitung» schon das Wochenende des 14. und 15. Mai sein.
Analysten rechnen für einen solchen Fall mit möglicherweise gravierenden Folgen: Putin könnte bei Kämpfen dort im eigenen Land argumentieren, dass russisches Staatsgebiet angegriffen werde. Das wiederum könnte er dafür nutzen, eine Generalmobilmachung der russischen Streitkräfte zu begründen. Oder auch als vermeintliche Legitimation für Angriffe auf westliche Ziele.
Es ist leider ein unwahrscheinliches Szenario, dass Putin sich nach einer möglichen Eroberung von Teilen der Ostukraine und Mariupol zufriedengibt und sich einer Verhandlungslösung öffnet.
Sanktionen, viele tote russische Soldaten, zerstörtes militärisches Gerät und katastrophale Konsequenzen für die russische Wirtschaft, die auf Rohstoffexporte angewiesen ist: Putin hat sich in der Ukraine komplett verkalkuliert und muss einen hohen Preis für seine Grossmachtambitionen zahlen.
Auch deshalb kann er aus seiner Perspektive nicht mit einem Gesichtsverlust den Konflikt einfrieren lassen. Bislang hat der Kreml in der Ukraine kaum etwas gewonnen und durch die westliche Unterstützung hat sich die Verhandlungsposition der Ukrainer im Vergleich zum Kriegsbeginn sogar noch verbessert.
Vieles deutet also auf einen langen Abnutzungskrieg hin, wobei Russland auch darauf hofft, dass der Westen das Interesse an dem Krieg in der Ukraine verliert. Dabei kommt im Kreml wahrscheinlich besonders grosse Freude auf, wenn deutsche Prominente einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern. Denn Russland möchte in westlichen Ländern das Narrativ verbreiten, dass die schweren Waffen verantwortlich für das Leid der Ukrainer sind – dabei ist nur Russland verantwortlich. Putin könnte das Sterben zu jedem Zeitpunkt beenden.
In erster Linie wird der Kreml nun alles versuchen, um kurzfristig an mehr Soldaten zu kommen. Entweder aus Belarus oder durch die Einziehung einer bestimmten Anzahl von Reservisten. Ob das nun mit einer offiziellen Kriegserklärung gegen die Ukraine einhergeht, ist unklar und hätte vor allem innenpolitische Folgen für Russland. Dass der russische Präsident am «Tag des Sieges» einen Krieg erklären muss, war jedenfalls sicher nicht sein Plan.
Verwendete Quellen:
(pdi,job )
Leider sehr unwahrscheinlich. Aber Träumen darf man ja. Bis dahin müssen die Sanktionen gegen Russland richtig umgesetzt werden, sofort und komplett. Totaler Import und Export Stopp. Europa kann das verkraften.
Also je verrückter und absurder die Möglichkeit, desto wahrscheinlicher als Plan.