«Chinas Frankenstein» He Jiankui: «Manche sehen mich als Held, andere als Monster»
Es war ein Sonntagabend, der 25. November 2018, als der chinesische Biophysiker He Jiankui die Bombe platzen liess. Auf Youtube verkündete er, die ersten genetisch veränderten Babys der Welt geschaffen zu haben: Die Zwillingsmädchen Lulu und Nana, deren Erbgut mithilfe der Genschere Crispr/Cas9 bei der künstlichen Befruchtung so verändert wurde, dass sie gegen HIV resistent sein sollten. Was He Jiankui als medizinischen Fortschritt pries, löste weltweit Entsetzen aus.
Wissenschafterinnen und Wissenschafter schimpften ihn einen «Rogue Scientist», einen Abtrünnigen. Jacob Corn, Professor für Genombiologie an der ETH Zürich, sprach von einem «Schurken, der einen monströsen und unethischen Ansatz verfolgte und dabei seinen Patienten Unrecht tat.» Eine globale Debatte über die Gefahren von Designer-Babys brach los. Die chinesische Regierung liess He verhaften und verurteilte ihn wegen illegaler medizinischer Praktiken zu drei Jahren Haft. Sein Fall gilt seither als Menetekel einer Forschung, die bereit ist, ethische Grenzen zu überschreiten.
2022 wurde He Jiankui aus dem Gefängnis entlassen. Von Reue ist beim heute 41-Jährigen nichts zu spüren. Auf X nennt er sich «der Oppenheimer aus China», er möchte «Pionier der Genom-Editierung» genannt werden und hält fest:
Nicht mehr ohne Bodyguard
Es ist fünf Uhr nachmittags in Peking, als er sich zum verabredeten Interview in den Videocall einwählt. He sitzt in seinem Büro, gleich neben dem Labor, das er vor Kurzem eröffnet hat. Drei wissenschaftliche Mitarbeitende habe er derzeit, erklärt er – aus Grossbritannien, Singapur und den USA. Langfristig soll daraus ein Forschungsinstitut auf Weltniveau werden, mit hundert Doktorierenden, die an den «grossen Krankheiten der Menschheit» arbeiten.
Sie haben drei Jahre im Gefängnis verbracht. Wie hat diese Zeit Sie verändert?
He Jiankui: Sehr. In der Haft habe ich viele Nachrichten von Menschen erhalten, die schwere Krankheiten in der Familie haben. Sie hoffen auf eine Technologie, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder und Enkelkinder schützt. Das hat mich darin bestärkt, dass Forschung letztlich den Menschen dienen muss. Früher dachte ich eher an Veröffentlichungen, Preise, Ruhm. Heute ist klarer: Das Ziel der Wissenschaft ist, Leiden zu verhindern.
Stehen Sie noch in Kontakt mit den Zwillingen Lulu und Nana?
Ja, natürlich. Sie sind jetzt sieben Jahre alt, besuchen die zweite Klasse, leben ein normales Leben und sind gesund. Für mich sind sie der Beweis, dass die Technologie sicher ist.
Sie polarisieren, nicht nur in China. Wie erleben Sie das im Alltag?
Wenn ich in ein Restaurant gehe, kommen Leute oft auf mich zu und wollen ein Foto. Manchmal aber werde ich auch attackiert – verbal oder körperlich. Deshalb habe ich inzwischen einen Bodyguard, wenn ich das Haus verlasse. Manche sehen mich als Held, andere als Monster. Ich muss mit dieser Ambivalenz leben.
Crispr/Cas9 gilt als eine der folgenreichsten Erfindungen der modernen Biologie. Die Genschere erlaubt es, DNA präzise zu schneiden – mit dem Potenzial, Erbkrankheiten zu heilen. Doch für Eingriffe in Embryonen war die Technologie 2018 nach Meinung der Experten nicht bereit. Sie schnitt häufig an falschen Stellen, löschte grössere DNA-Abschnitte, die Folgen waren kaum absehbar – und Fehler würden an künftige Generationen weitervererbt. Auch Hes eigene Daten zeigten, dass er die Methode nicht unter Kontrolle hatte. Trotzdem ignorierte er wissenschaftliche Richtlinien und umging zentrale Vorgaben für medizinische Studien.
International herrschte damals wie heute Konsens: Eingriffe in die Keimbahn, also in Eizellen, Samenzellen oder frühen Embryonen, dürfen erst erfolgen, wenn es globale Absprachen, klare Regeln und verlässliche Sicherheitsdaten gibt.
Ein folgenreiches Liebesabenteuer
Seit He Jiankui mit seinem unerlaubten Eingriff die genmanipulierten Zwillinge erschaffen hat, hat sich viel getan: Inzwischen finanzieren Tech-Milliardäre in den USA Start-ups, die das Erbgut ungeborener Kinder verändern wollen. In dieser Welt wird der genetische Code längst wie Computercode behandelt: als etwas, das Fehler enthalten kann, das sich reparieren, optimieren, verbessern lässt.
Eines der neuen US-Start-ups ist Manhattan Genomics, gegründet von Cathy Tie, einem Zögling des umstrittenen Tech-Investors Peter Thiel. Bereits Anfang dieses Jahres hatte Tie ein anderes Unternehmen lanciert, das mithilfe von Genomeditierung leuchtende Kaninchen als Haustiere züchten wollte.
Doch das eigentlich Kuriose ist etwas anderes: Die chinesisch-kanadische Unternehmerin führte eine stürmische Romanze mit – ausgerechnet – He Jiankui. Im Mai heirateten die beiden in Peking. Tie schenkte ihm, wie sie dem US-Magazin «MIT Technology Review» erzählte, einen silbernen Ring aus ineinander verschlungenen DNA-Strängen.
Gegenüber dieser Zeitung betont He, dass er und Tie keinen Kontakt mehr hätten. So sei er auch nicht in Manhattan Genomics involviert. Nach einigem Zögern aber verrät er: Cathy Tie besitzt offenbar die beiden Manuskripte seiner Experimente von 2018. Die wissenschaftliche Gemeinschaft fordert seit Jahren, dass er diese Daten veröffentlicht. Doch He weigert sich. Die einzige Option sei für ihn eine Publikation in einem der renommierten Fachmagazine «Nature» oder «Science». Beide Verlage hatten ihm aber bereits eine Absage erteilt.
Das zweite US-Unternehmen, das an der Genom-Editierung von Embryonen arbeitet, heisst Preventive. Es hat seinen Sitz im Silicon Valley und wird unterstützt von OpenAI-CEO Sam Altman und dessen Ehemann.
Sowohl Preventive als auch Manhattan Genomics haben sich zum Ziel gesetzt, die Menschheit von Erbkrankheiten zu befreien. Bislang hat jedoch keines der Unternehmen Einblick in ihre wissenschaftlichen Pläne gegeben, weder, welche Krankheiten sie angehen wollen, noch mit welchen Methoden. Das schafft Raum für Spekulationen.
Fyodor Urnov, Genetikprofessor in Berkeley, formulierte es gegenüber dem Tech-Magazin «Wired» so: Das Interesse an der embryonalen Genom-Editierung sei «quasi-eugenisch» motiviert. «Warum wird so viel Geld in diese Projekte gepumpt? Weil diejenigen, die Geld haben, ihre Babys verbessern wollen», sagt er.
Befeuert werden solche Befürchtungen durch Aussagen von Leuten wie Brian Armstrong, Mitgründer der Kryptowährungsplattform Coinbase und ebenfalls Preventive-Investor. Auf X fantasierte er darüber, dass sich mit Embryo-Editierung die Evolution beschleunigen lasse – durch Human Enhancement, also Eingriffe ins Erbgut zur Verbesserung von Gesundheit, Fähigkeiten oder Aussehen.
Neulancierung der Crispr-Debatte
«Allein der Gedanke an Human Enhancement», sagt der ETH-Genombiologe Jacob Corn, «lässt viele von uns in der Wissenschaftsgemeinschaft zusammenzucken.» Corn und sein Team entwickeln neue Technologien zur Genom-Editierung, mit dem Ziel, genetische Krankheiten zu heilen und zu verstehen, welche Folgen solche Eingriffe im menschlichen Körper haben.
Er beobachtet die aktuellen Genom-Editierungsvorhaben aus den USA mit einer Mischung aus Skepsis und Pragmatismus: «Die Ankündigungen waren sehr laut, begleitet von grossem Brimborium. Aber man sollte sich fragen: Was davon wird wirklich eintreten?»
Zwar habe sich in der Forschung der Genom-Editierung in den letzten Jahren viel getan. «Neben der klassischen Crispr-Technik gibt es heute das sogenannte Base und Prime Editing. Diese Verfahren erweisen sich im Labor als präziser und könnten damit auch für Eingriffe ins menschliche Genom sicherer sein.» Seine Betonung liegt auf «Könnten». Denn:
Dass nicht alle erfreut sind, dass die Forschung an Keimbahneingriffen gebremst wurde, weiss Jacob Corn. Er versteht, warum Eltern, die wissen, dass ihr Kind mit einer schweren genetischen Krankheit geboren werden könnte, nach Alternativen suchen.
Die Situation für diese Eltern lasse sich vergleichen mit einem neuen Antibiotikum, das im Labor gegen eine bislang tödliche Infektion wirkt, aber noch weiter getestet werden muss – und plötzlich verbietet jemand jede weitere Forschung daran, obwohl Menschen weiter sterben.
Corn sagt: «In der Schweiz und in Europa haben wir klare Werte, was den Status des Embryos betrifft. Andere Kulturen sehen das vielleicht anders – und sie werden diese Forschung wohl weiterverfolgen.» Laut einer Recherche des «Wall Street Journal» überlegt Preventive denn auch über eine Expansion an Orte nach, an denen Embryo-Editierung erlaubt ist, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate.
Grundsätzlich hält Corn es für angemessen, die Debatte rund um Keimbahneingriffe neu zu führen. «Aber das heisst nicht, dass wir deswegen unseren moralischen Kompass verändern müssen.»
Auch Crispr-Pionierin Jennifer Doudna, die 2020 gemeinsam mit Emmanuelle Charpentier den Nobelpreis für die Entwicklung der Genschere Crispr/Cas9 erhielt, mahnt zur Vorsicht. Als sie vom «Wall Street Journal» zu den Arbeiten von Preventive befragt wurde – der Gründer Lucas Harrington promovierte in ihrer Forschungsgruppe – betonte sie, Harrington bringe «die wissenschaftliche Strenge und Transparenz mit, die nötig sind, um zu prüfen, ob Crispr tatsächlich reif genug ist, um schwere genetische Krankheiten sicher präventiv zu behandeln». Die Fachwelt werde genau beobachten, wie verantwortungsvoll es sei, mit dieser Technologie in den Menschen zu gehen.
Elon Musks intelligentes Kind
He Jiankui derweil hat auf seinen sozialen Netzwerken einen Forschungsantrag geteilt, wonach er an der genetischen Prävention von Alzheimer arbeiten will.
Herr He, Ihre Mutter ist an Alzheimer erkrankt. Spielt Ihre persönliche Geschichte eine Rolle?
He Jiankui: Ja, sehr. Meine Mutter ist heute 68 Jahre alt. Seit einigen Jahren erkennt sie mich nicht mehr, meinen Bruder nicht, meinen Vater nicht. Das ist sehr schmerzhaft. In meiner Familie gibt es eine genetische Komponente für Alzheimer. Das bedeutet: Ich selbst könnte betroffen sein. Meine Tochter könnte betroffen sein. Ich möchte das zukünftigen Generationen ersparen. Menschen sollen ihre Erinnerungen und die Menschen, die sie lieben, in Erinnerung behalten.
Wie sieht Ihre aktuelle Forschung konkret aus?
Bei Lulu und Nana haben wir nur ein Gen verändert. Die Effizienz lag bei etwa 70 Prozent: Bei zehn Embryonen waren sieben so, wie wir es wollten, drei nicht. Heute arbeite ich daran, gleichzeitig zehn Gene mit sehr hoher Effizienz zu editieren – idealerweise bei 100 Prozent der Embryonen. Damit könnte man nicht nur vor HIV schützen, sondern auch vor Alzheimer, Krebs, Diabetes und anderen Krankheiten – gleichzeitig.
Wo ziehen Sie rote Linien?
Ich arbeite ausschliesslich an Prävention. Nicht an Optimierung. Wer versucht, Intelligenz genetisch zu verbessern, betreibt in meinen Augen ein eugenisches Experiment. Das lehne ich ab.
Von genetischer Optimierung für Intelligenz oder sportliche Fähigkeiten ist die Forschung ohnehin weit entfernt. «Man kann die besten Genetiker der Welt fragen – keiner wüsste, wo er da anfangen soll», sagt der ETH-Genombiologe Jacob Corn. Anders als etwa bei Erbkrankheiten wie Sichelzellanämie, Chorea Huntington, Mukoviszidose oder zystischer Fibrose, die auf einer einzelnen Genmutation beruhen, hängen Eigenschaften wie Intelligenz, Aussehen oder Sportlichkeit von Hunderten, oft Tausenden Genvarianten ab, mit jeweils winzigen Effekten.
Daher ist auch das Versprechen einer anderen Technologie zweifelhaft: das sogenannte polygenetische Risiko-Scoring. Mindestens eines der Kinder von Elon Musk und der Tech-Managerin Shivon Zilis soll mithilfe eines solchen Embryotests gezielt nach Intelligenz ausgewählt worden sein. Der Anbieter: das kalifornische Start-up Orchid. Dessen Gründerin Noor Siddiqui soll einmal gesagt haben: «Sex dient dem Spass, Embryonen-Screening den Babys.»
Polygenetische Risikoscores beruhen auf einem einfachen Prinzip: Aus Tausenden Genvarianten wird statistisch berechnet, wie hoch das Risiko für geistige Behinderungen, neurologische Störungen, Alzheimer, Schizophrenie und zahlreiche andere Erkrankungen oder Merkmale sein könnte. Es handelt sich nicht um Diagnosen, sondern um Wahrscheinlichkeiten – mit begrenzter Aussagekraft. Angeboten werden solche Analysen im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der Embryonen nach einer künstlichen Befruchtung genetisch untersucht und anschliessend ausgewählt werden. Anders als beim Embryoediting wird das Erbgut dabei nicht verändert. PID sortiert Embryonen aus – Crispr schreibt ihre DNA aktiv um.
Enttäuschung trotz genetischer Selektion
In den USA ist PID praktisch unreguliert und wird bereits seit längerer Zeit breit eingesetzt. Die ersten genetisch selektierten Kinder sind dort inzwischen Teenager. «Einige dieser jungen Menschen», schreibt die Rechtsphilosophin Britta van Beers von der Freien Universität Amsterdam in einem Blogbeitrag, «kämpfen mit Identitätsproblemen.» Sie wüssten, dass sie aufgrund bestimmter genetischer Merkmale ausgewählt wurden – «und sie fühlen sich verpflichtet, diesem ‹gekauften Profil› gerecht zu werden». Es gebe sogar Eltern, die offen enttäuscht seien, weil ihr Kind nicht ihren Erwartungen entspreche.
Herr He, würden Sie genetische Eingriffe bei zukünftigen eigenen Kindern anwenden?
He Jiankui: Die Technologie ist sicher. Aus meiner Sicht lassen sich Off-Target-Effekte (unbeabsichtigte Veränderungen im Erbgut, Anm. d. Red.) heute gut im Griff halten. Daher ist für mich klar, dass die Technologie eingesetzt werden sollte – und ja, auch bei meiner eigenen Familie würde ich sie eines Tages anwenden.
Und wenn Sie zurückblicken: Würden Sie alles noch einmal genauso machen wie 2018?
Ja. Wissenschaft und Medizin machen nur grosse Fortschritte, wenn jemand den ersten Schritt wagt. Viele sagen, ich hätte zuerst Studien publizieren sollen. Aber Revolutionen beginnen selten in Fachjournalen. Oft werden sie zuerst von der Öffentlichkeit wahrgenommen – und erst später in der Fachwelt akzeptiert.
Auf X schreiben Sie, eines Tages würden Sie Professor in Harvard sein. Meinen Sie das ernst?
Absolut. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil ich zeigen will, dass man diese Technologie verantwortungsvoll einsetzen kann – zum Nutzen der gesamten Menschheit. Und weil ich verhindern möchte, dass ein nationaler Wettlauf zwischen China und den USA die ethischen Grundsätze verzerrt, die Genom-Editierung leiten sollten. Wissenschaft braucht gemeinsame Standards – keine Konkurrenz, die aus nationalen Interessen heraus Grenzen verschiebt.
Warum sollte die wissenschaftliche Gemeinschaft Sie und Ihre Arbeit akzeptieren und ausgerechnet Harvard Sie berufen?
Viele meiner lautesten Kritiker stammen aus der älteren Generation. Sie werden ihre Meinung nicht mehr ändern. Aber eine neue Generation wächst nach – und sie beurteilt meine Arbeit anders. Ich richte meinen Blick nach vorn, nicht zurück.
Man könnte die Vision von He Jiankui als Lautsprecherei eines Exzentrikers abtun. Doch es geht um eines der mächtigsten Werkzeuge, die die Biologie je hervorgebracht hat. Und eine neue Elite mit nahezu unbegrenzten Mitteln ist bereit auszutesten, was damit möglich ist. Die Frage ist längst nicht mehr, wer den ersten Schritt wagt. Sondern wer den nächsten macht. Und wer ihn kontrolliert. (aargauerzeitung.ch)
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist seit 2017 hingegen erlaubt – allerdings nur unter strengen, im Fortpflanzungsmedizingesetz festgelegten Auflagen. Embryonen dürfen auf schwere Erbkrankheiten untersucht werden, nicht jedoch nach Geschlecht, Aussehen oder «Retterbaby»-Eignung ausgewählt werden. (sny)
