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Wie Polens Streit mit der EU Putin in die Hände spielt: Droht der Polexit?

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Den Blick auf Warschau gerichtet: Präsident Putin bei einer Zeremonie am Denkmal für Minin und Poscharski in Moskau, den Anführern eines Volksaufstandes gegen die Polen im frühen 17. Jahrhundert.Bild: keystone

Wie Polens Streit mit der EU Putin in die Hände spielt: Droht der Polexit?

In Polens politischer Öffentlichkeit hat ein Begriff Konjunktur: Polexit, der Austritt Polens aus der EU. Die Diskussion spielt vor allem dem grossen Nachbarn im Osten in die Hände.
07.12.2020, 00:51
Grzegorz Rzeczkowski / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Die EU sieht sich erneut mit einer existenziellen Krise konfrontiert. Nach dem Brexit droht sich ein ähnliches Szenario zu wiederholen, diesmal von Polen inszeniert. Im Einvernehmen mit Ungarn hat mein Land damit gedroht, sein Veto gegen den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 sowie gegen den Fonds für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Corona-Krise einzulegen.

Während Ungarn aber Entgegenkommen signalisiert, nimmt Polen eine unnachgiebige Haltung bei der Frage ein, die Auszahlung von EU-Mitteln künftig mit der Einforderung von Rechtsstaatlichkeit zu verbinden. Schlimmer noch, Regierungsquellen in Warschau deuten an, dass Polen aus der Union austreten könnte, wenn Brüssel seine Position nicht aufweicht. Der EU-Gipfel am 10. und 11. Dezember könnte die letzte Gelegenheit für einen Kompromiss sein.

Über den Autor
Grzegorz Rzeczkowski ist Chef-Investigativreporter von Polityka, dem angesehensten polnischen Wochenmagazin. Sein Schwerpunkt sind russische «aktive Massnahmen» gegen westliche Demokratien. Seine Recherchen sind die Grundlage zweier Bücher: In einem fremden Alphabet: Lauschangriff des Kremls und der PiS (2019), das russische Verbindungen zum Abhörskandal von 2014 beschreibt, der die polnische Regierung verhängnisvoll diskreditierte, und Post-Smolensk. Wer hat Polen gebrochen? (2020), das die Aussaat von Verschwörungstheorien nach dem Absturz von Smolensk 2010 beschreibt.

Die PiS hätte es in der Hand

Die Wahrscheinlichkeit eines Polexit ist umso grösser, da das Verfahren für einen Austritt in Polen einfach ist. Ein Referendum ist nicht notwendig; eine einfache Mehrheit der Stimmen im Parlament, dazu die Unterschrift des Präsidenten, würde ausreichen. Beide Schritte liegen in der Macht der polnischen Regierungspartei, der radikal euroskeptischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS).

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Der polnische Premier Mateusz Morawiecki (l.) mit dem ungarischen Premier Viktor Orban. Bild: keystone

Der Polexit ist somit eine gefährlich reale Perspektive. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sät Angst, wenn er vor dem polnischen Parlament spricht und finster behauptet, dass die EU «nicht die Europäische Union ist, der wir beigetreten sind, und es ist keine Union, die eine Zukunft hat».

Wenn die EU nach 2016 einen weiteren Austritt zu verkraften hätte und auf den Brexit der Polexit folgen würde, würde nicht nur Polen leiden, sondern die gesamte Union. Abgesehen von den wirtschaftlichen Konsequenzen würde Polen in die russische Einflusssphäre gezogen, während die EU vom Osten abgeschnitten wäre. Dies wäre eine Katastrophe für ein demokratisches Europa und ein bedrohlicher Rückschritt hin zur Ordnung des Kalten Krieges. Nur wenige Punkte stehen auf der Tagesordnung von Wladimir Putin höher.

Überzeugende Beweise deuten darauf hin, dass der russische Präsident hinter dem Versuch steht, Polen aus der EU herauszulösen. In den Jahren 2015 und 2016 haben russische Geheimdienste den demokratischen Verlauf der Wahlen in den USA und Grossbritannien untergraben. Viele Jahre lang haben sie versucht, dasselbe in Polen zu erreichen.

Polen im Fokus des Kreml

Die strategischen Ziele Russlands bezüglich Polen und anderen EU-Staaten sind den polnischen und Nato-Gegenspionagediensten seit Langem bekannt. Vor 2015 verfügte die polnische Spionageabwehr, die Agentur für Innere Sicherheit (ABW), über harte Informationen, dass Russland den Polexit betreiben und Polen auf der internationalen Bühne diskreditieren wollte. Um aber die Bedrohung für die EU zu verstehen, ist es notwendig, sich das aktuelle Geschehen in Polen genauer anzusehen.

Der Kreml ist sich bewusst, dass ein starkes und geeintes Polen, das mit dem Westen und seinen Institutionen verbunden ist, ausserhalb der Reichweite Russlands liegt. Eine Schwächung Polens, indem man es von seinen stabilen westlichen Bündnissen abkoppelt, würde die Ausweitung des russischen Einflusses ermöglichen. Aus diesem Grund hat Russland in den letzten Jahren intensive Anstrengungen unternommen, um die polnische Gesellschaft zu spalten und ihr internationales Ansehen zu zerstören. Neben seinen Geheimdiensten hat Russland dafür auch nationalistische Gruppen und Provokateure eingespannt.

Russland ist ein Meister in der Kunst des «aktiven Handelns», einschliesslich der Desinformation und dem Einsatz von Informationen als Waffe. Dies geschah mit dem Flugzeugabsturz von Smolensk 2010, bei dem 96 hochrangige polnische Persönlichkeiten, darunter Präsident Lech Kaczynski, ums Leben kamen. Dies war auch der Fall beim Abhörskandal von 2014, bei dem Schlüsselpersonen in der damaligen Regierung des polnischen Premierministers Donald Tusk kompromittiert wurden.

President of the European Council Donald Tusk arrives at the G-7 summit in Biarritz, France, Sunday, Aug. 25, 2019. (AP Photo/Andrew Harnik)
Donald Tusk
Donald Tusk war während des Abhörskandals von 2014 polnischer Premier.Bild: AP

Smolensk wird zum Fixpunkt der polnischen Rechten

Von Anfang an war die Smolensk-Katastrophe ein gefundenes Fressen für die prorussische und antieuropäische polnische Rechte. Sie verbreitete die Theorie, dass der Absturz das Ergebnis einer Verschwörung zwischen Premier Tusk und Präsident Putin war. Politiker der PiS – damals in der Opposition – griffen diese Theorie auf.

Unterstützt wurden sie von Personen und Institutionen, die mit der amerikanischen Alt-Right-Bewegung in Verbindung standen, insbesondere vom Institute of World Politics (IWP) in Washington, das von Republikanern, darunter John Lenczowski, einem ehemaligen Reagan-Berater, gegründet worden war. Unter ihnen waren Persönlichkeiten, die Donald Trump nahestanden, wie der Lobbyist Mike Prince und der ehemalige Berater im Weissen Haus, Sebastian Gorka, sowie Personen, die der PiS nahestanden, wie der rechtsextreme Aktivist Marek Jan Chodakiewicz.

Wohl am wichtigsten aber war, dass der russische Geheimdienst die Verschwörungstheorien von Smolensk für sich zu nutzen wusste. Die Russen erkannten, dass solche Theorien dazu benutzt werden könnten, einen Keil in die Gesellschaft zu treiben und Polen als ein unberechenbares Land darzustellen, das einer ernsthaften Behandlung durch internationale Partner nicht würdig ist. So begann der russische Geheimdienst damit, Dokumente zu platzieren und «Agents Provocateurs» aufzuwiegeln, die paranoide Erzählungen von einem Attentatsplan hinter Smolensk verbreiten sollten; eine Aktivität, die von der polnischen Spionageabwehr aufgedeckt wurde.

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April 2011: Bei einem Marsch im Gedenken an die Opfer des Smolensk-Unglücks in Krakau tragen Teilnehmer ein Banner, dass den Mythos von der Verschwörung von Putin und Tusk aufgreift.Bild: EPA

Doch diese Eingriffe waren erfolgreich – die Polen wurden in zwei verfeindete Lager geteilt. Obwohl ein Bericht der polnischen Regierung aus dem Jahr 2011 beweist, dass die Hauptursache für die Katastrophe von Smolensk eine Reihe von Fehlern der Flugzeugbesatzung war, glauben heute dennoch mehr als 40 Prozent der Polen – zumeist PiS-Wähler – nicht an die offizielle Version.

Blaupause für die Einmischung im US-Wahlkampf

Im Jahr 2014 wurde die liberal-konservative Regierung von Donald Tusk von der so genannten «Abhöraffäre» erschüttert – die Nachrichtenagentur AP bezeichnete sie später als Laboratorium für die russische Einmischung in die US-Wahlen 2016. In zwei Warschauer Restaurants wurden Gespräche von über 100 Personen aufgezeichnet; potenziell belastende Auszüge aus diesen Gesprächen gelangten anschliessend an die Öffentlichkeit. Es war der grösste Abhörskandal in der Geschichte der westlichen Demokratie. Darin verwickelt: der amtierende Premierminister, frühere Präsidenten, der Aussenminister, der Chef der Sicherheitsdienste, der Präsident der Nationalbank und die Chefs der grössten polnischen Unternehmen.

Donald Tusk nannte den Skandal damals auf einer Pressekonferenz «einen versuchten Staatsstreich» – und bestand darauf, dass er akribisch untersucht werden müsse. Kein Aspekt dürfe ausser Acht gelassen werden, egal ob es sich um geschäftliche, kriminelle oder ausländische Spionage handele. Tusk machte deutlich, dass sein Verdacht auf den russischen Geheimdienst falle. Im Juni 2014 sprach er in einer Rede vor dem Parlament seine berühmten Worte vom «Drehbuch» der Operation: «Ich weiss nicht, in welchem Alphabet es geschrieben ist», sagte er.

Unglücklicherweise fand die Untersuchung nie statt. Tusk übernahm das Amt des EU-Präsidenten, und obwohl die polnische Spionageabwehr eindeutige Hinweise auf eine russische und von der PiS unterstützte Operation erhalten hatte, war Tusks Nachfolgerin als Premierministerin, Ewa Kopacz, nicht daran interessiert, die Sache weiterzuverfolgen.

Der Skandal verhalf der PiS zur Macht

Der Lauschangriff schien zunächst eine passive Übung russischer Agenten zu sein, um sensible Geschäftsinformationen und später Staatsgeheimnisse zu sammeln. Im Jahr 2014, als Polen sich hinter die ukrainische Revolution stellte, wurde die passive Operation zu einer offensiven. Die Abhörbänder wurden als Waffe genutzt, um den Feind zu schwächen und zu vernichten. Das Ergebnis war das Ende für die amtierende polnische Regierung.

Was waren die Folgen der Desinformationskampagne um den Smolensker Flugzeugabsturz und des Abhörskandals? 2015 kam die PiS an die Macht und schleppte eine Karawane von Menschen in die Ämter, die – bewusst oder unbewusst – das Spiel Moskaus betrieben und Ansichten verfochten, die Musik in den Ohren der Mächtigen im Kreml waren.

Seitdem hat sich Polen mit jedem seiner bis dahin wichtigsten europäischen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich, zerstritten. Nach dem Sieg Joe Bidens bei den US-Wahlen dürften sich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten internationalen Verbündeten der PiS, wahrscheinlich abkühlen.

Polnische Politiker aus dem Regierungslager haben sich so eng an die Regierung von Donald Trump gebunden, dass Präsident Andrzej Duda dem siegreichen Kandidaten der Demokraten bis heute noch nicht gratuliert hat. Nur ein einziger bedeutender Staatenlenker hat dies bislang ebenfalls noch nicht getan – Wladimir Putin.

Der Polexit – nicht ausgeschlossen

Vor einigen Tagen liess Donald Tusk niemanden im Zweifel darüber, was er von der PiS und von Russland hält, als er twitterte: «Alle, ich wiederhole: Alle Aktionen der PiS passen genau in die russische Strategie, die EU aufzubrechen und Polen geopolitisch zu isolieren. Ob sie sich dessen bewusst sind, was sie tun, ist eine zweitrangige Frage.»

Seien wir deshalb nicht überrascht, sollte der Austritt Polens aus der EU Wirklichkeit werden. Wenn der Kreml und seine polnischen Verbündeten mit dieser Operation Erfolg haben, wird die Zeit für andere Staaten kommen. So kann eine Lawine beginnen. Glücklicherweise ist noch Zeit, dies zu verhindern. Aber zuerst müssen diese Themen laut diskutiert werden.

Über den Autor
Grzegorz Rzeczkowski ist Chef-Investigativreporter von Polityka, dem angesehensten polnischen Wochenmagazin. Sein Schwerpunkt sind russische «aktive Massnahmen» gegen westliche Demokratien. Seine Recherchen sind die Grundlage zweier Bücher: In einem fremden Alphabet: Lauschangriff des Kremls und der PiS (2019), das russische Verbindungen zum Abhörskandal von 2014 beschreibt, der die polnische Regierung verhängnisvoll diskreditierte, und Post-Smolensk. Wer hat Polen gebrochen? (2020), das die Aussaat von Verschwörungstheorien nach dem Absturz von Smolensk 2010 beschreibt.
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82 Kommentare
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winglet55
07.12.2020 06:20registriert März 2016
Für die EU, zusammen vielleicht mit einem Ungexit, die grösste Sparmassnahme.
19819
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Varanasi
07.12.2020 06:13registriert August 2017
Polen ist der grösste Nettoempfänger in der EU.
Ausserdem stehen, nach Umfragen, 72% der polnischen Bevölkerung hinter dem Gesetz, dass die Fördergelder an die Rechtsstaatlichkeit gebunden sein sollen.
Ich denke, die Gefahr eines Polxit ist eher gering.
Die Regierung bekommt sowieso neuerdings Gegenwind, wie man jetzt bei dem neuen Abtreibungsgesetz sehen kann. Das ist alles viel zu riskant.
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EinsZweiDrei
07.12.2020 07:44registriert Juli 2014
Wieso nennt man es statt "Polexit" nicht "Polend"? ;)
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