Anfang September starteten die ukrainischen Streitkräfte zwei grossangelegte Gegenoffensiven im Süden und Nordosten des Landes. Innerhalb eines Monats seien über 600 Ortschaften von den russischen Besatzern befreit worden, behauptete Kiew Mitte Oktober.
Doch nicht alle freuen sich gleichermassen über den Abzug: Menschen, die mit den Russen kollaboriert haben oder beschuldigt werden, dies getan zu haben, sind nun exponiert – und in Gefahr. Berichte zeigen, dass in einigen der befreiten Dörfer Anschuldigungen laut werden.
Dass diese Anschuldigungen aufkommen, war eigentlich zu erwarten, denn «jeder Krieg bringt diese Situation mit sich, die seit der Römerzeit immer wieder beobachtet wurde», erklärt Laurent Tissot, Historiker und Honorarprofessor an der Universität Neuenburg.
Die Verhinderung des Phänomens scheint unmöglich. Der Historiker erklärt: «Soldaten und Einwohner erhalten sehr genaue Anweisungen und sollen die Behörden informieren, wenn sie glauben, dass jemand kollaboriert hat.» Allerdings habe die Geschichte immer wieder gezeigt, dass die Menschen zu Rache neigen:
Von der Denunziation bis zur summarischen Hinrichtung sei es häufig nur ein kleiner Schritt, so der Historiker.
In der Ukraine sei dies bereits beobachtet worden. Die unabhängige russische Website Mediazona berichtet von mehr als 27 mehr oder weniger erfolgreichen Mordversuchen an Beamten, die auf die Seite der Besatzer gewechselt hatten.
Es muss aber die Frage gestellt werden: Kann ein kollaborierender Beamter mit einem einfachen Bürger – der schlicht versucht zu überleben – gleichgesetzt werden? Tissot sagt dazu: «Der Begriff ‹Kollaborateur› ist mit konkreten Formen der Hilfe verbunden, aber die Grenze ist fliessend», darum müsse man sich auf die Gesetzgebung der einzelnen Länder verlassen.
Die Ukraine hat seit Beginn des Konflikts Gesetze erlassen oder geändert. Die Zusammenarbeit mit den Russen in den besetzten Gebieten wird mit hohen Haftstrafen geahndet:
Zudem muss beachtet werden, dass auf den ersten Blick alltägliche Handlungen in der Ukraine als kollaboratorisch gelten und daher strafbar sind. Dazu gehören die Unterstützung der Besatzungsstreitkräfte, wirtschaftliche Aktivitäten und das öffentliche Leugnen des bewaffneten Angriffs auf die Ukraine – auch im Internet.
Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) und die nationale Polizei werden allfällige Ermittlungen übernehmen. Die Aufgabe verspricht besonders schwierig zu werden. Denn «es gibt die Widerstandskämpfer auf der einen Seite und die Kollaborateure auf der anderen». Dazwischen gebe es eine grosse Grauzone, erklärt Tissot.
Eine einzelne Handlung macht einen nicht zwingend schuldig. «Menschen, die beschuldigt wurden, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben, behaupteten, sie hätten nicht anders handeln können, als die Besatzer sie aufforderten, ihren Hof oder ihre Tiere abzutreten», erinnert der Professor. Eine Situation, die angesichts der schlechten Ausrüstung der russischen Soldaten wieder aktuell ist.
Die grosse Schwierigkeit bestehe darin, dass die Besetzung in den Köpfen der Betroffenen nicht mit dem Krieg aufhöre, bestätigt Tissot: «Die Menschen halten ihre Erinnerungen wach und Racheakte können noch Jahrzehnte nach den Ereignissen drohen.»
Dies gelte umso mehr, als sich diese Dramen oft in kleinen Dörfern abspielten, wo jeder jeden kenne, stellt der Historiker fest. Schlimmer noch, manchmal passiere es sogar innerhalb der gleichen Familie. Das könne eine Gesellschaft über Jahre hinweg vergiften.
Angesichts dieser Risiken gebe es nur eine Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen, schliesst Tissot: Die Justiz müsse schnell und korrekt handeln, um die Dinge nicht im Unklaren zu lassen: «Wenn die Dinge nicht gut verwaltet werden, wird die Situation sehr heikel.»
(Übersetzt aus dem Französischen, yam)
Etwas ganz anderes ist es, wenn ich wegen einem Nachbar von den Russen in die Folterkammer gesteckt wurde oder wenn ein anderer den Gemeinde-Chef spielen wollte
Sorry geht gar nicht. NIE.
Da die UA über ein funktionierendes Justiz-System verfügt, wie dies in Rechtsstaaten üblich ist, herrschen keine archaischen Zustände. In jedem Verfahren müssen Beweise vorgebracht werden – eine reine Denunziation ist nicht ausreichend.
Viele Fälle von Kollaborateuren erledigen sich ganz von alleine: Sie ziehen mit den russ. Truppen ab und begeben sich in RU ins Exil. Zahlreiche Fälle von Mitgliedern der russ. Besatzungs-Behörden sind dokumentiert.