«Kann jederzeit auch hier passieren»: Schweizer Juden nach Sydney-Attentat verunsichert
15 Tote, mehrere Dutzend Verletzte: Nach dem antisemitischen Angriff auf ein Chanukka-Fest in Sydney ist die jüdische Community erschüttert. Auch in der Schweiz. Wie sicher fühlen sich Jüdinnen und Juden in der Schweiz?
Gegenüber watson nimmt Jonathan Kreutner Stellung. Er ist Zentralsekretär des Schweizerisch-Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Dieser vertritt als nationaler Dachverband schweizweit 18 jüdische Gemeinden und damit knapp drei Viertel der jüdischen Bevölkerung der Schweiz. Kreutner sagt:
Als Beispiel dafür nennt Kreutner den antisemitischen Angriff Anfang März 2024, als in Zürich Selnau ein orthodoxer Jude von einem Jugendlichen mit einem Messer attackiert wurde. Der damals 50-jährige Mann überlebte schwer verletzt; das Messer traf die Hauptschlagader und verfehlte das Herz nur knapp.
Das Sicherheitsgefühl der Juden und Jüdinnen in der Schweiz habe in den letzten zwei Jahren massiv gelitten, sagt Kreutner.
Immer mehr Juden verstecken ihren Glauben
Das lässt sich mit Zahlen belegen. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat letztes Jahr zum bereits zweiten Mal nach 2020 eine Befragung unter in der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden durchgeführt.
Während 2020 noch 21,3 Prozent der Menschen sagten, dass sie manchmal, oft oder ständig jüdische Veranstaltungen meiden würden, lag 2024 dieser Wert bei 43,9 Prozent – eine Verdoppelung.
Das Vermeidungsverhalten wird auch darin erkennbar, an welchen Örtlichkeiten sich Juden und Jüdinnen in der Schweiz sicher fühlen. 40,9 Prozent der Befragten sagten 2024, dass sie um bestimmte Orte oder Gebiete einen Bogen machen würden. 2020 lag dieser Wert noch bei 19,4 Prozent.
71,4 Prozent der Befragten gaben zudem letztes Jahr an, keine Dinge mehr zu tragen oder sichtbar zu machen, die ihren jüdischen Glauben erkennbar machen würden. Dieser Wert lag 2020 bei 62,9 Prozent.
«Wir sehen, dass sich rote Linien verschieben. Dinge, die als unsagbar galten, werden in gewissen Kreisen plötzlich salonfähig», sagt Kreutner. So seien an den mitunter fast wöchentlich stattfindenden Pro-Palästina-Demonstrationen teils auch antisemitische Parolen skandiert worden. Parolen, die die Auslöschung Israels forderten, seien nicht selten.
Wäre es nicht Aufgabe der nationalen Politik, diesen zunehmenden Antisemitismus in der Schweiz zu bekämpfen? Sibel Arslan, Nationalrätin der Grünen, fordert das seit Jahren. «Politik und Behörden müssen dem Kampf gegen Antisemitismus deutlich mehr Aufmerksamkeit schenken», sagt sie.
Umso mehr hat sich Arslan daran gestört, dass der Bundesrat über keine nationale Strategie verfügt, Antisemitismus Einhalt zu gebieten. Schon 2022 forderte sie deshalb den Bundesrat auf, einen Aktionsplan mit «griffigen Massnahmen» gegen Antisemitismus zu erstellen.
Erste nationale Strategie
Der Bundesrat erachtete aber damals den Handlungsbedarf als zu wenig gross und empfahl Arslans Vorstoss zur Ablehnung. Erst vergangene Woche, drei Jahre später und unter dem Eindruck des Kriegs in Nahost, hat der Bundesrat seine Position überdacht. Am 8. Dezember beschloss er die erste nationale Strategie gegen Rassismus und Antisemitismus.
Arslan freut sich darüber. Für sie zählt nun vor allem: Sensibilisierung. «Es ist zentral, dass sich Kinder in der Schule schon früh mit dem Thema auseinandersetzen.»
Den Vorwurf, dass Antisemitismus insbesondere in linken Kreisen, die traditionell pro-palästinensisch auftreten, zugenommen habe, will Arslan nicht gelten lassen:
Für Kreutner vom SIG ist klar, was beim Aktionsplan Priorität haben muss: «Es geht jetzt auch darum, griffige Massnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus einzuführen und die Stimmung runterzukühlen.» Die jüdische Gemeinschaft habe grosses Vertrauen in die Schweizer Sicherheitsbehörden.
Werden die jüdischen Gemeinden für die weiteren Chanukka-Feierlichkeiten, die bis zum 21. Dezember andauern, die Schutzmassnahmen erhöhen? Die Sicherheitskonzepte würden laufend angepasst, sagt Kreutner: «Synagogen und andere jüdische Institutionen gelten leider nicht erst seit gestern als gefährdet.»
