Ab Dienstag simuliert die Schweiz während drei Wochen den Ernstfall: Bei jeder Sitzung des UNO-Sicherheitsrats wird festgelegt, wie sie sich als vollwertiges Mitglied äussern und wie sie abstimmen würde. Damit sollen gemäss Auskunft des Aussendepartements EDA als Vorbereitung auf die am 1. Januar 2023 beginnende zweijährige Mitgliedschaft «die Abläufe und die Koordination der Beschlussfassung» getestet werden.
Schon seit Anfang Oktober darf die Schweiz als baldiges Mitglied als Beobachterin an allen Sitzungen des Sicherheitsrats teilnehmen. Der Bundesrat hatte im August bekräftigt, die drei Monate als eine Art Trainingslager zur Vorbereitung auf die Mitgliedschaft zu nutzen. Bereits das zweite Treffen des Sicherheitsrats, dem die Schweiz am 5. Oktober als Beobachterin beiwohnte, hatte es sich in sich. Die an der Sitzung anwesenden Mitarbeitenden der Schweizer UNO-Mission in New York erlebten einen Kaltstart in die grosse Weltpolitik.
Einziges Thema auf der Tagesordnung war Nordkorea. Die Situation rund um die koreanische Halbinsel hatte sich schon länger zugespitzt. Zwischen dem 25. September und dem 1. Oktober dieses Jahres hatte das kommunistische Nordkorea acht ballistische Raketen abgefeuert. Am 4. Oktober zündete Pjöngjang eine weitere Rakete – und damit die nächste Eskalationsstufe.
Der Marschflugkörper, mutmasslich vom Typ Hwasong-12, flog ostwärts über das japanische Meer, überquerte den nördlichsten Teil der japanischen Hauptinsel Honshu und stürzte nach einem schätzungsweise 4600 Kilometer weiten Flug in den Pazifik. Gemäss Angaben des japanischen Verteidigungsministeriums handelte es sich um die bislang weiteste Strecke, die eine nordkoreanische Rakete zurückgelegt hat. Erstmals seit 2017 durchquerte sie den Luftraum über Japan. In der Flugbahn des Projektils wurden Zivilisten aufgerufen, sich in Schutzbunker zu begeben, und Zugverbindungen kurzzeitig eingestellt.
Der Sicherheitsrat versammelte sich tags darauf am berühmten hufeisenförmigen Tisch in seinem Sitzungssaal. Um 15.05 Uhr Lokalzeit begann die Sitzung. Eine Stunde und 25 Minuten dauerte der öffentliche Teil der Sitzung am 5. Oktober. Danach führten die Mitglieder die Diskussionen im Rahmen von informellen Konsultationen fort – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
In den 85 Minuten davor zeigte sich, mit welchen Herausforderungen die Schweiz während ihrer zwei Jahre im Sicherheitsrat konfrontiert sein wird. Wie in vielen anderen Bereichen – nicht zuletzt dem Ukraine-Krieg – zeigte sich das Gremium auch beim Umgang mit Nordkoreas Raketentests uneinig. Ursache der Blockade: die fundamentalen Differenzen zwischen den fünf ständigen Mitgliedern, auch P5 genannt.
Die USA, Grossbritannien und Frankreich verurteilten Nordkoreas jüngsten Raketentest – den 39. seit Jahresbeginn – in scharfen Tönen. Linda Thomas-Greenfield, die Vertreterin der USA, sprach von einem «gefährlichen und destabilisierenden Verhalten Pjöngjangs» und einer klaren Verletzung von Resolutionen des Sicherheitsrats. Doch Thomas-Greenfield kritisierte nicht nur Kim Jong Un und sein Regime. Sie warf – ohne deren Namen zu nennen – den ständigen Mitgliedern China und Russland vor, seit Jahren ihre schützende Hand über Nordkorea zu halten.
Die beiden Länder liessen nichts unversucht, «die wiederholten Provokationen Nordkoreas zu rechtfertigen», und bestärkten somit Kim Jong Un. Dass China und Russland das Verhalten Nordkoreas als Folge der angeblich feindseligen Handlungen der USA und ihrer Verbündeten darstellten, sei falsch und inakzeptabel. Der Sicherheitsrat müsse seiner Verantwortung nachkommen und geeint auftreten, um die geltenden Resolutionen und Sanktionen gegen Nordkorea durchzusetzen: «Lassen Sie uns unseren Job machen», sagte Thomas-Greenfield.
China und Russland reagierten mit ähnlich scharfen Worten. Nordkoreas Raketenstarts seien «offensichtlich eine Konsequenz der kurzsichtigen, konfrontativen US-Militärmanöver» in der Region, sagte die russische Vertreterin Anna Evstigneeva. Es sei die Schuld der Vereinigten Staaten, dass der Sicherheitsrat nicht in der Lage sei, zum Abbau der Spannungen beizutragen, sagte Evstigneeva. Ihr chinesischer Kollege Geng Shuang rief die USA dazu auf, «konkrete Massnahmen zu ergreifen, um ihre Aufrichtigkeit zu demonstrieren» und so auf «die berechtigten und vernünftigen Anliegen Nordkoreas» einzugehen.
Wie hätte sich die Schweiz in diesem Schlagabtausch der Grossmächte positioniert? Eine konkrete Antwort liefert das Aussendepartement EDA auf Anfrage nicht. Es verweist darauf, dass die dreiwöchige Testphase zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen hatte. Doch die Schweiz hätte sich auch bei der Sitzung vom 5. Oktober – wie in einem Grossteil der Geschäfte – auf etablierte Positionen stützen können, schreibt das EDA: «So ist namentlich auch die Haltung der Schweiz betreffend Raketentests durch Nordkorea, die gegen UNO-Sicherheitsratsresolutionen verstossen, klar und wurde in verschiedenen multilateralen Foren zum Ausdruck gebracht.»
Grundsätzlich kämen bei Wortmeldungen und Positionsbezügen für Abstimmungen im Sicherheitsrat «die bewährten Konsultations- und Entscheidmechanismen zur Anwendung», schreibt das EDA. Diese werden bereits heute in den UNO-Hauptorganen, also etwa in der Generalversammlung oder im Menschenrechtsrat, genutzt.
Eine zentrale Rolle spielt die im EDA angesiedelte UNO-Koordination (UNOK). Unter ihrer Führung werden seit dem Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen im September 2002 die Positionsbezüge der Schweiz erarbeitet – und zwar unter Miteinbezug aller mitinteressierten Stellen in der Bundesverwaltung. Im Normalfall beteiligen sich die inhaltlich betroffenen Bundesämter oder Staatssekretariate an diesem Prozess. Bei Geschäften mit einer «gewissen innen- oder aussenpolitische Tragweite» wird die Position auf höherer Hierarchiestufe konsolidiert, heisst es in einem Bericht des Bundesrats vom September 2020. Stehen inhaltlich neue Fragen oder eine Änderung der bis anhin geltenden Schweizer Position zur Diskussion, wird ein UNO-Geschäft auch mal im Gesamtbundesrat beraten.
Zwingend ist ein Beschluss des Landesregierung auch dann , wenn der Sicherheitsrat ein neues Sanktionsregimes beschliesst. Auch dies konnte die Schweiz im Beobachterstatus aus nächster Nähe mitverfolgen: Am 21. Oktober beschloss der Sicherheitsrat neue Sanktionen für Haiti. Wiederholt sich ein solcher Entscheid während der Vollmitgliedschaft der Schweiz, so müssten auch die Präsidenten der aussenpolitischen Kommissionen (APK) des Parlaments vorgängig konsultiert, wie das EDA erläutert.
Knapp zwei Monate vor ihrem Einzug in den Sicherheitsrat intensiviert die Schweiz die Vorbereitungen auf mehreren Ebenen. Über das vergangene Jahr verteilt nahmen Mitarbeitende der Bundesverwaltung, die in den kommenden zwei Jahren mit dem Einsitz im Sicherheitsrat beschäftigt sein werden, an virtuellen und physischen Weiterbildungen teil. Vorletzte Woche reisten dafür gemäss CH-Media-Informationen, welche das EDA bestätigt, zwei Vertreterinnen der NGO Security Council Reports nach Bern. Die Organisation beobachtet das Tagesgeschäft und die langfristige Entwicklung des Sicherheitsrat seit vielen Jahren aus nächster Nähe.
Auch auf der praktischen Ebene laufen die Vorbereitungen heiss. Bei der Schweizer UNO-Mission in New York sind derzeit zwei Stellen ausgeschrieben. Gesucht wird eine Person, die das fünfköpfige Kommunikationsteam während der «entscheidenden Phase» der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat unterstützt. Diese sorgt auch für zusätzliche öffentliche Aktivitäten wie Empfänge. Die Mission sucht deshalb einen «Household / Event Manager», der möglichst reibungslose Abläufe garantiert. Gefragt sind «ausgezeichnetes Organisationstalent, gute Umgangsformen und professionelle Diskretion».
Talente, welche die Schweiz auch im UNO-Sicherheitsrat gebrauchen wird.