Daniel Kahneman war 90 Jahre alt und bei guter Gesundheit – doch er wollte nicht mehr leben. Er spürte, wie sein Gedächtnis nachliess. Seine grösste Angst war, an Demenz zu erkranken, von anderen Personen abhängig zu werden und nicht mehr selbst entscheiden zu können.
Ein Neurologe beruhigte ihn zwar und diagnostizierte keine Demenz. Doch für Kahneman war klar, dass er in naher Zukunft damit rechnen musste. Diese Phase wollte er umgehen, bevor sie beginnt. Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür?
Kahneman war ein weltberühmter Psychologe und auf solche Fragen spezialisiert. In einer anschaulichen Sprache erklärte er, wie wir uns häufig von unserem Bauchgefühl in die Irre leiten lassen.
2002 erhielt er einen Nobelpreis in Ökonomie und 2013 eine Freiheitsmedaille von US-Präsident Barack Obama, die höchste zivile Auszeichnung der USA. Sein Bestseller «Schnelles Denken, langsames Denken» erschien 2011 und wurde über elf Millionen Mal verkauft.
Am 27. März 2024 starb Kahneman. Die Nachrufe enthielten keine Angaben zur Todesursache. Nun veröffentlichte das «Wall Street Journal» Auszüge aus seinem Abschiedsbrief. Darin kündigte er an, dass er sein Leben in der Schweiz beenden werde.
Gemäss Recherchen von CH Media nutzte Kahneman die Dienste der Suizidhilfeorganisation Pegasos im Weiler Roderis der Gemeinde Nunningen SO. Die Solothurner Staatsanwaltschaft prüfte den aussergewöhnlichen Todesfall von Amtes wegen und hielt das Vorgehen für rechtens.
Der Fall widerlegt eine verbreitete Fehlannahme. Suizidhilfe für gesunde Personen ist in der Schweiz nicht etwa verboten, sondern legal. Eine unheilbare Krankheit oder ein schweres Leiden ist keine rechtliche Voraussetzung dafür. Jede Person kann selbst entscheiden, wann sie ihr Leben beenden will – solange sie urteilsfähig ist, also die unwiderruflichen Folgen dieses Entscheids abschätzen kann. Mit einer Demenz verschwindet diese Fähigkeit.
Die Schweiz ist das einzige Land der Welt, in dem Suizidhilfe für Ausländer erlaubt ist. Deshalb reiste Kahneman von New York nach Nunningen. Der Mann, der sein Arbeitsleben den Entscheidfindungen widmete, bestimmte auch sein Ableben durch einen wohlüberlegten Entscheid.
Kahneman erlebte, wie seine Mutter ihr Gedächtnis verlor, bevor sie starb. Er war entsetzt, als er realisierte, dass er am Ende mehr über ihre Erlebnisse wusste als sie selbst.
Auch seine Ehefrau Anne Treisman – eine berühmte Psychologin – war jahrelang dement, bevor sie starb. Für ihn war dies ein besonders schmerzhafter Prozess.
In seinem Abschiedsbrief schrieb Kahneman:
In seinem Lebenswerk beschrieb er zwei Denksysteme, die immer in Konkurrenz zueinander stünden. Er nannte sie System 1 und 2. System 1 ist das instinktive Denken, das aus dem Bauchgefühl entsteht. System 2 beschreibt das logische Denken, für das wir mehr Zeit benötigen.
Kahneman illustriert dies mit einer Denkaufgabe, die schon vielen Schülerinnen und Studenten gestellt wurde:
Ein Schläger und ein Ball kosten 1.10 Franken. Der Schläger kostet einen Franken mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Das Bauchgefühl sagt: 10 Rappen. Doch es liegt falsch. Denn dann würde der Schläger 1.10 Franken kosten und der Gesamtbetrag 1.20 Franken betragen. Die richtige Antwort lautet: 5 Rappen.
Kahneman analysiert:
Die intuitive Antwort falle sicher auch denjenigen zuerst ein, die schliesslich auf die richtige Zahl gekommen seien. Doch ihnen gelang es, sich der Intuition zu widersetzen.
Forscher stellten die Denkaufgabe Tausenden Studenten von Eliteuniversitäten. Das Resultat bezeichnete Kahneman als «erschreckend». Die meisten lagen falsch. Sie übersahen auch, dass es gar keinen Sinn machen würde, die Aufgabe zu stellen, wenn die Lösung so einfach wäre.
Das Beispiel zeigt: Es ist menschlich, dass sich das faule Denken durchsetzt. Nur wenig Anstrengung wäre nötig, um die naheliegende Antwort zu verwerfen. Trotzdem tun wir dies oft nicht. Wer Kahneman liest, lernt, weniger Entscheide aus dem Bauch heraus zu treffen und sich mehr Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
Der israelisch-amerikanische Doppelbürger ist ein Meister darin, komplexe Zusammenhänge einfach zu erklären. Im folgenden Beispiel geht es um eine zufällig ausgewählte Person einer repräsentativen Stichprobe:
Die Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: «Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen Leuten oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Leidenschaft für Details.» Ist Steve eher Bibliothekar oder eher Bauer?
Die Ähnlichkeit von Steves Persönlichkeit mit dem Stereotyp eines Bibliothekars fällt sofort auf. Wichtige statistische Überlegungen werden dabei aber übersehen. In der Schweiz zum Beispiel gibt es nur 1500 Bibliotheken, aber fast 50'000 Bauernhöfe. Weil es viel mehr Bauern als Bibliothekare gibt, wird man höchstwahrscheinlich auch mehr «sanftmütige und ordentliche Menschen» auf Traktoren finden als hinter Bibliotheksschaltern.
Das Beispiel zeigt: Weil wir uns von einfachen Faustregeln leiten lassen, begehen wir immer wieder die gleichen vorhersehbaren Fehler. Das einfache Denken überlistet unseren Verstand.
Kahneman liebte es, über solche Phänomene nachzudenken und sich neue Experimente auszudenken. Besonders gerne tat er dies auf langen Spaziergängen mit seinem Forschungspartner Amos Tversky.
Kahneman schrieb über ihn: «Amos war immer sehr witzig, und in seiner Gegenwart wurde auch ich witzig, sodass wir Stunden gewissenhafter Arbeit in fortwährender Erheiterung verbrachten.» Die Freude an ihrer Zusammenarbeit habe sie aussergewöhnlich geduldig gemacht. Seine Erkenntnis: Man strebe eher nach Perfektion, wenn man sich nicht langweile.
Den Nobelpreis hätte er wohl zusammen mit Tversky erhalten. Doch dieser starb 1996 mit 59 Jahren an Krebs. Kahneman hatte auch mit der Witwe seines Arbeitskollegen eine enge Beziehung. Mit ihr zog er 2020 zusammen, zwei Jahre nachdem Kahnemans Ehefrau gestorben war. Aus seiner ersten, noch früheren Ehe hatte er zwei Kinder und drei erwachsene Grosskinder, die alle in Israel leben.
Kahneman stammte aus einer jüdischen Familie, die 1920 von Litauen nach Frankreich zog und unter der deutschen Besetzung litt. Sein Vater starb während des Zweiten Weltkriegs. Mit zehn Jahren zog Danny – so nannten ihn seine Freunde – mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Palästina, kurz vor der Gründung Israels.
Kahneman war ein Pessimist. Früher sei den Leuten selbst im Zweiten Weltkrieg klar gewesen, dass die Zukunft besser werde, sagte er. Doch in den Jahrzehnten vor seinem Tod glaubte er nicht, dass seine Grosskinder dereinst ein besseres Leben haben würden.
Die Besonderheit an Kahneman war: Auch wenn er solch bittere Erkenntnisse vortrug, etwa in der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie», tat er dies mit einer Sanftheit und einem Lächeln.
Er sah es schlicht als eine rationale Überlegung an, dass es mit der Welt bergab gehe. Doch er nahm dies nicht persönlich. Mit seinem eigenen Leben war er glücklich. Und es erfüllte ihn mit Zufriedenheit, über seinen Tod entscheiden zu können.
Mit seiner Frau unternahm er eine letzte Reise nach Paris und traf sich mit seiner Familie aus Israel. Doch seine allerletzte Reise wollte er allein antreten. Er wollte sich nicht von System 1, der Gefühlswelt, aufhalten lassen. System 2, das rationale Denken, sollte sein Lebensende prägen.
Vom Sterbezimmer in Nunningen hatte Kahneman einen Ausblick über die grünen Hügel des Schwarzbubenlandes. In Anzug und Krawatte legte er sich auf das Bett und drehte eine Infusion mit Natrium-Pentobarbital auf. Ein Begleiter hielt seine Hand und sagte ihm, dass er sie stellvertretend für seine Liebsten halte. Kahnemans letzte Worte waren: «I feel their love.»