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Russland-Experte: Putin bis 2024 abgelöst

December 13, 2022, Novo-Ogaryovo, Moscow Oblast, Russia: Russian President Vladimir Putin takes part in a virtual opening ceremony of a number of new and reconstructed transport infrastructure facilit ...
Präsident Vladimir Putin und Russland-Experte Ulrich Schmid.Bild: www.imago-images.de

Russland-Experte: Putin bis 2024 abgelöst

Der russische Präsident sei «toxisch geworden im Führungsmilieu des Kremls», sagt Professor Ulrich Schmid von der Universität St.Gallen. Nun arbeite die Elite auf Putins Abgang «durch die Hintertür» hin.
21.12.2022, 08:54
Francesco Benini, Fabian Hock / ch media
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Es ist nun 300 Tage her, dass der russische Präsident Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet hat. Ist seine Machtposition in Russland sicher?

Ulrich Schmid: Putin hat sich komplett verschätzt. Er hat die Schlagkraft der eigenen Armee überschätzt, den Widerstandsgeist der Ukrainer unterschätzt, und er lag mit seiner ideologischen Beurteilung völlig falsch, dass die Russen von einem grossen Teil der ukrainischen Bevölkerung als Befreier begrüsst werden.

Was bedeutet das für ihn als Präsidenten?

Putin galt lange als Garant der politischen und wirtschaftlichen Stabilität in Russland. Am 24. Februar ist das zusammengebrochen. Mit seinem irrwitzigen Kriegsentscheid hat er die Karten im Machtpoker neu verteilt. Die anderen Mitspieler müssen sich nun genau überlegen, auf wen sie in Zukunft setzen.

Die Unterstützung für Putin hat aber weder in der Bevölkerung noch in der Elite stark abgenommen.

Die viel zitierten Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Nur fünf Prozent der angefragten Personen sind überhaupt bereit, Auskunft zu geben. Eine deutliche Mehrheit der russischen Bevölkerung steht dem Krieg ablehnend gegenüber. Bei den Eliten kann man von einer «Partei des 23. Februars» sprechen. Das sind nicht reformorientierte Leute, das sind Profiteure des Systems. Sie wissen, dass es keine Rückkehr zum Status quo ante gibt, aber sie wollen so schnell wie möglich eine Normalisierung der Lage. Für sie war die Welt am 23. Februar in Ordnung gewesen. Sie hatten ihre Privilegien, ihre ausländischen Bankkonten, ihre Yachten, sie konnten frei reisen, ihre Kinder studierten unbehelligt im Ausland. Und in dieser komfortablen Situation reisst Putin einen unsinnigen Krieg vom Zaun.

Wer gehört zu diesen Kreisen?

Das sind einerseits Oligarchen, andererseits sogenannte liberale Insider wie etwa Ministerpräsident Mischustin, Handelsminister Manturow oder der Moskauer Bürgermeister Sobjanin. Alle sind Technokraten und loyale Gefolgsleute Putins. Aber alle drei haben sich kaum öffentlich zum Krieg geäussert, um ihre politische Akzeptanz im In- und Ausland nicht zu gefährden. Sie sehen den Krieg als etwas an, das den Interessen Russlands und der russischen Bevölkerung zuwiderläuft.

Sehen Sie ernsthafte Bemühungen, die darauf deuten, dass ein Machtwechsel herbeigeführt werden soll?

Mir scheint, dass auf einen Abgang durch die Hintertür hingearbeitet wird. Diese Lösung muss gesichtswahrend sein sowohl für Putin als auch für diejenigen, welche die Zeit danach organisieren. Der Nachfolger Putins muss drei Bedingungen erfüllen: Er vertritt die herrschende nationalkonservative Ideologie, er garantiert die Privilegien der Machtelite und er hat die Fähigkeit, das bestehende System zu modernisieren.

Sollte Putin abgelöst werden - wann könnte dies geschehen?

Das wird nicht schnell gehen. Wenn man jetzt die Ablösung vollzöge, entstünde der Eindruck, dass man die Notbremse in einer schwierigen militärischen Situation zieht. Wenn es nicht innerhalb des nächsten Jahres zu einem grossen militärischen Sieg kommt - wovon nicht auszugehen ist -, denke ich, dass es im Jahr 2023 oder spätestens bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024 zur Ablösung kommt.

Putin hat das Machtsystem ganz auf sich zugeschnitten. Er kann nicht einfach so ersetzt werden.

Das ist ein Problem jeder personalisierten Diktatur. Wenn der Herrscher in die Jahre kommt, ist es sehr schwierig, jemanden zu finden, der einerseits über die Autorität verfügt, die der Diktator hatte ­- und der anderseits loyal genug gegenüber dem System ist. Es ist aber nicht alles gleich geblieben im Herrschaftsgefüge seit dem 24. Februar. Es brodelt hinter den Kulissen. Das sieht man am Machtkampf zwischen der Armee und den verschiedenen Geheimdiensten. Deshalb kommt es zu inszenierten Fernsehauftritten.

Wenn Putin sich gegen die Ablösung stemmt, droht dann nicht eine Eskalation im Krieg gegen die Ukraine? Könnte Putin dann Atomwaffen einsetzen?

Sie sprechen die Frage an, ob Putin den Verstand verloren haben könnte. Das glaube ich nicht. Er geht immer in der Logik des Geheimdienstes vor. Putin hat ein Gespür dafür, dass Macht etwas Fragiles ist. Eine Eskalation würde Putin nur wagen, wenn sie ihm etwas bringt. Er denkt in Mittel-Zweck-Relationen. Im Moment setzt er die Drohung der Eskalation als Waffe ein. Im Zuge der Verfassungsreform 2020 hat Putin ein Gesetz erlassen, das ihm und seiner Familie persönliche Immunität garantiert über die Zeit seiner Präsidentschaft hinaus. Das zeigt, dass er nicht von einer suizidalen Logik getrieben ist.

Welche Rolle sehen Sie für Putin, wenn er nicht mehr Präsident ist?

Er hat in den letzten Jahren intensiv daran gearbeitet, sich Optionen zu schaffen. Er kann als Senator im Föderationsrat Einsitz nehmen, er kann den Staatsrat präsidieren, der 2020 den Verfassungsrang erhielt. Putin könnte auch Vorsitzender der Staatenunion von Belarus und Russland werden. Er würde damit in eine weniger exponierte Stellung wechseln, die seinen heutigen Interessen entspricht. Er kümmert sich seit einigen Jahren kaum mehr um Wirtschaftspolitik oder Innenpolitik; ihm geht es um die grossen Konturen, und er will seinen Platz in der Geschichte sichern.

Im Westen klingt manchmal die Hoffnung an, dass jemand auf Putin folgen könnte, der die Aussöhnung mit dem Westen sucht. Ist das eine Illusion?

Eine Aussöhnung mit dem Westen halte ich in absehbarer Zeit für nicht erreichbar. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Westen gibt es die Überzeugung: Der Krieg ist nicht zu Ende, wenn Russland sagt: «Wir schiessen nicht mehr.» Die Forderung nach einem internationalen Gericht für Kriegsverbrechen steht im Raum, auch Reparationszahlungen werden verlangt. Ein Nachfolger von Putin könnte sich nicht so einfach darauf einlassen.

Putin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Russlands Einfluss zu vergrössern. Lässt sich ein solcher Präsident aufs Altenteil schieben? Nimmt er eine Funktion als Grüssaugust wahr? Übt er anderseits weiter Macht aus, wird das sein Nachfolger kaum hinnehmen.

Diese Situation hatten wir schon einmal zwischen 2008 und 2012: Es gab eine informelle Absprache zwischen dem Präsidenten Medwedew und dem Ministerpräsidenten Putin.

Putin hatte die Zügel in der Hand.

Das stimmt. Aber ein sanfter Abgang Putins könnte genauso funktionieren: Er tritt einen Schritt zurück, besetzt ein weitgehend repräsentatives Amt, übt aber in allen wichtigen Fragen nach wie vor einen gewissen Einfluss aus. Putins Autorität hat Risse bekommen. Die Erwartung in der Machtelite ist, dass man jemanden braucht wie Putin minus Krieg. Jemand, der für den konservativen Kurs steht, der über die notwendige Durchsetzungsfähigkeit verfügt, der aber Russland nicht in eine militärisch-politische Sackgasse führt.

Wie soll der Nachfolger Russland aus der prekären Situation herausbringen, in die Putin das Land geführt hat? Wie soll er dabei aus einer Position der Stärke operieren?

Wenn er die militärischen Positionen halten will, die Russland zu jenem Zeitpunkt innerhalb der Ukraine eingenommen hat, ist es kein Rückzug, sondern eine Stabilisierung. Der neue Präsident würde Zeit gewinnen und könnte dem eigenen Publikum sagen: Wir machen jetzt weder einen Schritt zurück noch einen Schritt nach vorne, sondern stabilisieren die Situation. Stabilität ist etwas, was in der russischen Bevölkerung immer gut ankommt.

Einen gewaltsamen Sturz sehen Sie nicht?

Das halte ich für unwahrscheinlich. Von wem würde eine solche Aktion ausgehen? In den letzten Monaten waren Kriegstreiber wie Kadyrow oder Prigoschin in den Schlagzeilen. Beide verfügen aber nicht über eine Hausmacht im Kreml. Man weiss dort genau, dass das Banditen sind, mit Blut an den Händen. Als Jewgeni Prigoschin kürzlich selber ins Rampenlicht trat, tauchte ein Video mit kompromittierenden Berichten aus seiner Haftzeit in den Neunzigerjahren auf. Ihm wurde damit signalisiert: Streck deinen Kopf nicht zu weit hinaus!

Wie wird der Krieg enden?

Ich kann mir vorstellen, dass es zu Geheimverhandlungen kommt. Die ukrainische Armee ist ziemlich erschöpft. Die Situation ist die: Beide Seiten sind zu schwach, um zu gewinnen. Und zu stark, um zu verlieren. Geheimverhandlungen wurden wohl schon vor dem russischen Rückzug aus Cherson geführt. Zu jenem Zeitpunkt wurde eine Win-win-Situation ausgemacht: Die Russen dürfen ihre Soldaten heil über den Dnjepr zurückziehen, und die Ukrainer gewinnen relativ problemlos Gelände zurück. Ähnliche Geheimverhandlungen könnten zu einem Eindämmen des Konflikts führen, wenn es einen Nachfolger von Putin gibt.

Spätestens 2024 tritt Putin ab, davon sind Sie überzeugt.

Es ist meine Vermutung. Putin ist toxisch geworden im Führungsmilieu des Kremls. Es ist allen klar, dass mit Putin buchstäblich kein Staat zu machen ist, weder innenpolitisch noch aussenpolitisch. Die Lage ist äusserst fragil. Dass die Führungselite die Modalitäten eines sanften Abgangs des Präsidenten aushandeln will, erscheint mir plausibel. (cpf)

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37 Kommentare
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Scrat
21.12.2022 10:55registriert Januar 2016
Putin hat sich seinen Platz in der Geschichte schon längstens gesichert - allerdings mit sehr negativem Touch und wohl kaum so, wie er sich das vorgestellt hat.
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Martin Baumgartner
21.12.2022 09:59registriert Juni 2022
"Totgesagte leben länger"
Das wäre nicht das erste Mal, dass man das Ende von Putins Herrschaft vorausgesagt hat.
Ich hoffe Herr Schmid hat recht.
Wenn ich auch befürchte, dass sein Nachfolger keinen D***k besser sein wird.
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Herr Jemine
21.12.2022 10:19registriert April 2022
Meines Erachtens sind nur die Szenarien der Menschheit würdig, welche mit einer Verurteilung Putins enden.
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