Es ist Krieg in der Ukraine. Eva, die einzige Schweizerin im ostukrainischen Donbass, musste ihr Kinderheim Segel der Hoffnung evakuieren, genau wie damals 2014, als das Heim bei einem Artillerie-Angriff komplett zerstört worden war. Sie hat sich mit ihren drei Töchtern, ihrem Mann und zwei befreundeten Familien in einem Keller versteckt. 30 Kilogramm Reis und Pasta, ein paar Kartoffeln, Milch und einen Wasserfilter haben sie mitgenommen. Dazu die Brio Bahn für die Kinder. Am Nachmittag des ersten Kriegstages ruft Eva an und erzählt:
«Am Donnerstag um 5 Uhr kam der Anruf meiner Schwiegermutter. Explosionen hatten sie geweckt. Wahrscheinlich war das die Attacke auf den Flughafen von Kramatorsk ganz in der Nähe. Im Vergleich zu Charkiw, wo bereits Panzer in den Strassen stehen, ist es in Slowjansk aber noch ruhig. Ich nehme an, dass wir dann später «drankommen». Die Läden und die Bankautomaten sind aber jetzt schon leer, vor den Tankstellen gibt es Stau. Aber Angst? Nein, das habe ich nicht. Im Moment bin ich einfach vollgepumpt mit Adrenalin, da vergisst man die eigenen emotionalen Bedürfnisse.
Ich passe aber auf, was ich lese und was ich mir anschaue. Ich will keine zerfetzten Leichen sehen, die in Blutlachen auf der Strasse liegen. Das bringt mir nichts. Ich weiss ja, wie brutal die Szenen mancherorts sind.
Mir hilft es, dass ich hier etwas zu tun habe. Ich habe mit vielen unserer Mitarbeitenden Seelsorge gemacht. Und am Freitagmorgen haben wir damit beginnen können, einige unserer Heimkinder mit ihren Betreuern zu evakuieren. Wir konnten ihnen Benzin kaufen und ein paar Lebensmittel, damit sie die Flucht raus aus Slowjansk nicht mit leeren Händen antreten mussten.
Für unsere Familie aber ist Flucht keine Option. Wo sollen wir hin? Der Freund meiner ältesten Tochter ist mit dem Auto aus Charkiw geflohen. Auf dem Weg hierhin wurde er unter Beschuss genommen. Jetzt draussen zu sein, ist schlicht nicht sicher. Und nach den Flughäfen kommen als Nächstes die Bahnhöfe dran. Das war schon beim Angriff 2014 so. Jetzt in einen Zug zu steigen, wäre lebensgefährlich.
Das Kinderheim haben wir am Donnerstag komplett evakuiert. Es hat keinen Keller. Es ist kein sicherer Ort, weil es relativ nah vom Radioturm steht, der als strategisch wichtiges Ziel jederzeit angegriffen werden könnte. Die Kinder haben wir zu ihren Familien zurückgeschickt. Wir haben unseren Mitarbeitenden die Löhne für den Monat bar ausbezahlt und jedem einen Feuerlöscher mitgegeben.
Moment... sind das Schüsse? Wart rasch. ... Nein, doch nicht. Mit sieben Kindern und all dem Gerumpel hier ist es manchmal schwierig, die Geräusche von draussen richtig einzuschätzen. Wir sind drei Familien hier im Keller, zwei haben ein Zimmerchen, eine übernachtet im Gang. Aber noch ist in Slowjansk alles einigermassen ruhig. Wir wissen, dass sich das rasch ändern kann. Ein Bekannter von mir wurde gestern an der Front verwundet.
Unsere Heizung aber funktioniert noch. Im Moment haben wir auch noch Wasser und Strom. Gestern haben vorsichtshalber alle noch einmal geduscht. Wer weiss, wann sie den Hahn abdrehen. Und wer weiss, wie lange wir unsere Handys noch laden und kommunizieren können.
Doch mein Mann sagt immer: Wenn die Truppen kommen, dann sind wir hier am sichersten. Hier kennen wir die Stadt, hier müssen wir keine Angst haben, dass uns die Nachbarn verraten. Stell dir vor, rund um dich wird geschossen und du weisst nicht mal, wo du dich verstecken kannst. Und wir sind uns sicher: Früher oder später wird es einen Korridor für Zivilisten geben, über den wir fliehen können.
Ganz ehrlich: Ich bin so dankbar, dass ich hier bin. Ich kann das Bewusstsein für die Not der Menschen hier schärfen. Mit unserem Kinderheim Segel der Hoffnung können wir den Familien hier helfen. Mein Glaube ist es, der mir in diesen Momenten Trost gibt, in denen ich in einem Keller sitze und darauf warte, dass der Krieg mein Zuhause erreicht.»