Als Aleppo am Wochenende kampflos in die Hände der Dschihadisten-Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) fiel, waren viele Beobachter überrascht. Die zweitgrösste Stadt Syriens galt seit ihrer Rückeroberung durch die Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad nicht mehr als umkämpftes Gebiet.
Und doch ist Aleppo nun nicht mehr in der Hand der Assad-Truppen. In einer Blitzoffensive nahm die HTS-Miliz die Millionenstadt binnen zwei Tagen ein. Nach der nahezu kampflosen Übergabe der zweitgrössten Stadt des Landes machte sich Angst in der Bevölkerung breit – denn die HTS ist eine Nachfolgeorganisation der al-Nusra-Front, einer salafistischen Terrororganisation, auf deren Konto viele Tote im syrischen Bürgerkrieg gehen.
Die zahlreichen Minderheiten in Aleppo – Kurden, Aleviten, Schiiten und Drusen – sorgen sich wegen der drohenden Herrschaft der Terrormiliz um ihre Sicherheit.
Ein Mann wollte die Wogen allerdings schnellstmöglich glätten. «So Gott will, werden wir als Befreier nach Aleppo einmarschieren», sagte Abu Mohammed al-Julani in einem Video, das die HTS kurz vor der Einnahme Aleppos über die sozialen Medien verbreitete. Julani ist der Chef der HTS, leitete zuvor schon die al-Nusra-Front. Der Islamisten-Chef führte weiter aus: «Wir kommen nach Aleppo, um die Unterdrückung der Menschen zu beenden.»
Er habe seine Soldaten angewiesen, die Häuser der Einwohner nicht zu betreten und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Und tatsächlich: Bislang gibt es keine Berichte über Massaker oder schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung. Diese Tatsache wirft ein neues Licht auf al-Julani, der den syrischen Diktator Baschar al-Assad als seinen schlimmsten Feind betrachtet und ihn durch die Offensive der HTS massiv unter Druck setzt.
"We will enter Aleppo as liberators."
— Middle East Eye (@MiddleEastEye) November 29, 2024
Leader of Hay'at Tahrir al-Sham Abu Muhammad al-Jolani monitors the factions' entry into the Syrian city.
Since Wednesday, footage circulating on social media has shown Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) and aligned forces making advances. pic.twitter.com/doLLKMdMgi
Doch wer ist Abu Mohammed al-Julani? Allzu viel ist über den Anführer der HTS nicht bekannt. In einer Dokumentation des US-amerikanischen Fernsehsenders PBS erzählte Julani, er sei im Jahr 1982 in Saudi-Arabien geboren worden. Seine Eltern stammten von den Golanhöhen in Syrien, die im Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt wurden. Wegen der Besatzung Israels zog die Familie nach Saudi-Arabien, bevor sie 1989 nach Syrien zurückkehrte.
2003 folgte ein erneuter Umzug. Es ging in den Irak, nach Bagdad. Dort schloss sich Mohammed al-Julani der Terrororganisation Al-Kaida an und kämpfte gegen die irakischen Truppen, die im Zuge des Zweiten Golfkrieges Teile des Iraks besetzten.
Der Kampf Julanis war allerdings nicht erfolgreich: Noch vor dem Ausbruch des irakischen Bürgerkriegs im Jahr 2006 wurde er von den Amerikanern verhaftet. Im PBS-Interview erzählte Julani, er habe anschliessend in verschiedenen US-Gefängnissen im Irak eingesessen, darunter auch dem berüchtigten Foltergefängnis Abu Ghraib. Verifizieren lassen sich seine Aussagen nicht.
Nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs schloss er sich einer dschihadistischen Miliz in der Heimat seiner Eltern an, die später zur al-Nusra-Front wurde – und stieg zum Chef der radikalen Islamisten auf. 2016 brach er mit dem Islamischen Staat und ihrer Vorstellung des globalen Dschihads, um sich auf den Machtkampf um Syrien konzentrieren zu können.
Ein Jahr danach entstand aus dem Zusammenschluss fünf islamistischer Milizen die HTS, die Organisation zur Befreiung der Levante, die in der Rebellenhochburg Idlib unter Julanis Ägide faktisch die Herrschaft übernahm.
Dort regierte die HTS unter dem Namen «Syrische Heilsregierung». Der Name ist irreführend – denn mehrere Berichte, darunter in der «Neuen Zürcher Zeitung», werfen den Islamisten vor, politische Gegner und Journalisten zu verhaften, zu foltern und zu töten.
Doch seit einigen Jahren versucht Julani, seiner Gruppe einen gemässigten Anstrich zu geben. Sorgfältig komponierte Bilder zeigen ihn während des muslimischen Fastenmonats Ramadan mit Waisenkindern. Als die Türkei und Syrien 2023 von einem schweren Erdbeben erschüttert wurden, inszenierte sich Julani als Retter in der Not, der seinem Volk half und auch Drusen und Christen die Hand reichte.
«Sein Bruch mit dem Islamischen Staat und Al-Qaida und der HST ist echt. Sie waren nicht länger Teil dieser Organisationen und es ist jetzt im Wesentlichen achteinhalb Jahre her, dass sie dem globalen Dschihad abgeschworen haben», sagte Aaron Zelin, Senior Fellow am Washington Institute for Near East Policy, dem «Wall Street Journal».
Zelin bescheinigt der Truppe ein disziplinierteres Vorgehen, seit sie nicht mehr unter dem Namen al-Nusra-Front fungiert. Ideologisch verfolge die HTS unter Julani eine Mischung aus Islamismus und Nationalismus, ähnlich der palästinensischen Hamas. Statt unter dem Banner des Islam kämpfen die HTS-Truppen unter der alten syrischen Flagge. Diese Flagge geht auf die Republik zurück, die vor der Revolution der Baath-Partei von 1963 existierte, die schliesslich die Familie Assad an die Macht brachte.
Auch deshalb dürfte der aktuelle Diktator Baschar al-Assad angesichts der Geländegewinne der HTS äusserst nervös sein – denn die Islamisten betrachten ihn als Gegner, den es zu besiegen gilt. Das hat Mohammed al-Julani in Ansprachen und einer Mitteilung erklärt.
Ob es der ehemalige Terrorführer mit seiner Wandlung ernst meint, steht nicht fest. Auch die Taliban, deren Ideologie sich mit der der HTS vergleichen lässt, versprachen vor ihrer Machtübernahme im Jahr 2021 eine integrative Regierung und eine stärkere Achtung der Frauenrechte, haben aber seither die Frauen aus dem Berufs- und Bildungswesen verdrängt und sind zu der radikal-islamistischen Regierungsform zurückgekehrt, die sie vor der US-Invasion 2001 etabliert hatten.
«Der Wandel von einem kleinen syrischen Dschihadisten im Irak zum Anführer der syrischen Revolution? Ich habe da meine Zweifel», sagte Fabrice Balanche, Syrien-Expertin an der Universität Lyon, dem «Wall Street Journal». «Ja, Julani ist wahrscheinlich mit dem Alter bürgerlicher geworden und hat vielleicht einen Teil seiner radikalen Ideologie aufgegeben. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass er 'Taqiya' spielt – also seine wahren Absichten verschleiert.»
Der Teufel Assad wird also offenbar mit einem Islamistischen Belzebub ausgetrieben, was eigentlich die bitteren Erfahrungen mit dem "Arabischen Frühling" retraumatisiert, als Beispielsweise in Ägypten die Muslim-Brüder die Revolution sogleich verrieten, als sie -von einer Mehrheit gewählt- ihre Version einer Diktatur installierten.
Demokratie-Tauglichkeit im "Nahen Osten"?
Leider Fehlanzeige...