In einer Blitzoffensive eroberte ein islamistisches, dschihadistisches Rebellenbündnis die Millionenstadt Aleppo. Die Assad-Truppen leisteten kaum Widerstand. Was zum Vormarsch beigetragen hat und welche Gefahren er mit sich bringt, darüber haben wir mit Politikwissenschaftlerin Elham Manea gesprochen. Die Titularprofessorin doziert an der Universität Zürich über Geopolitik, Islamismus und Menschenrechte im Nahen Osten.
Frau Manea, kam der Angriff auf das Assad-Regime überraschend?
Elham Manea: Die islamistische, dschihadistische Rebellenallianz hatte über einen Zeitraum von zwei Jahren eine Offensive vorbereitet, was allgemein bekannt war. Überraschend war jedoch die Art und Weise, wie Aleppo ohne nennenswerten Widerstand eingenommen wurde.
Wie gelang es den Rebellen, Aleppo so schnell zu erobern?
Interne Dynamiken innerhalb des syrischen Militärs und der Regierung spielten bei der schnellen und ungehinderten Übernahme eine entscheidende Rolle. Probleme wie geringe Moral, Korruption und logistische Herausforderungen beeinträchtigten die Fähigkeit des Regimes, effektiv zu reagieren. Diese internen Schwächen machten das Regime anfällig für plötzliche und gut koordinierte Angriffe.
Assads grösster Verbündeter, Russland, ist derzeit mit seinem eigenen Krieg beschäftigt. Hat diese Situation also zur aktuellen Entwicklung beigetragen?
Die derzeitige Fokussierung Russlands auf eigene militärische Operationen, insbesondere in der Ukraine, hat die Entwicklungen in Syrien beeinflusst. Russland bleibt zwar ein zentraler Unterstützer des Assad-Regimes und hat kürzlich Luftangriffe zur Unterstützung der syrischen Armee durchgeführt. Dennoch könnten die umfangreichen militärischen Verpflichtungen in der Ukraine die Ressourcen und die operative Kapazität Russlands in Syrien beeinträchtigen. Diese Umstände könnten es den Rebellen erleichtert haben, ihre jüngsten Offensiven durchzuführen.
Die libanesische Miliz Hisbollah, die vom Iran unterstützt wird, steht dem Assad-Regime im Syrienkrieg zur Seite. War die Offensive auch angesichts der angespannten Lage im Nahen Osten ein günstiger Moment?
Das Timing der Rebellenoffensive war tatsächlich vorteilhaft. Nach dem Massaker am 7. Oktober, dem Krieg im Gazastreifen und dem Angriff der Hisbollah auf Israel wurden die wichtigsten Verbündeten Assads, vor allem der Iran und die Hisbollah, stark in die Krise in Gaza eingebunden. Diese Umverteilung der Ressourcen und Aufmerksamkeit führte zu einem strategischen Vakuum in Syrien und schwächte die Reaktionsfähigkeit des Assad-Regimes. Die Hisbollah war durch ihr Engagement in Gaza und an der israelisch-libanesischen Grenze belastet, während der Iran sich auf seine regionalen Ziele konzentrierte, was es den Rebellen ermöglichte, diese Schwäche auszunutzen.
Warum ist Assad so stark auf Unterstützung angewiesen?
Das Assad-Regime ist aus mehreren Gründen geschwächt. Interne Konflikte und Korruption verringern die Effizienz und Moral der Truppen. Zudem sind die syrischen Streitkräfte durch den langen Bürgerkrieg angeschlagen. Die anhaltende Wirtschaftskrise hat die Ressourcen weiter erschöpft und die Fähigkeit zur Kriegsführung eingeschränkt.
Was ist das für eine Allianz, welche jetzt die Kontrolle über Aleppo hat?
Das Rebellenbündnis wird von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) angeführt. HTS entstand aus der Nusra-Front, die ursprünglich ein Ableger der Terrororganisation Al-Qaida war. Obwohl HTS offiziell den Bruch mit Al-Qaida verkündet hat, folgt die Gruppe weiterhin einer dschihadistischen Ideologie. Die Allianz umfasst weitere radikale Gruppierungen, die ideologisch ähnlich ausgerichtet sind und in der Vergangenheit in unterschiedlichen Konstellationen zusammengearbeitet haben.
Warum agieren die Gruppen zusammen?
Die Rebellen agieren gemeinsam, um ihre militärische Schlagkraft zu erhöhen und ihre strategischen Ziele besser zu koordinieren. In einem Konflikt wie dem syrischen Bürgerkrieg, in dem verschiedene Akteure um die Vorherrschaft kämpfen, ist eine Zusammenarbeit oft entscheidend, um Territorien zu gewinnen oder zu verteidigen. Ideologische Gemeinsamkeiten, insbesondere die Ausrichtung auf eine dschihadistische Agenda, erleichtern diese Kooperation.
Von wem wird das Bündnis unterstützt?
Das Bündnis erhält Unterstützung von regionalen und internationalen Akteuren, die ein Interesse daran haben, das Assad-Regime zu schwächen. Dabei handelt es sich um private Netzwerke und Einzelpersonen, die finanzielle, logistische und militärische Hilfe leisten. Länder wie die Türkei haben in der Vergangenheit dschihadistische Gruppen in Syrien unterstützt, insbesondere im Nordwesten des Landes, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen.
Was ist mit den Golfstaaten?
Im Gegensatz zum Beginn des syrischen Bürgerkriegs unterstützen die Golfstaaten HTS nicht mehr direkt. Ihre Haltung hat sich verändert, da sie zunehmend darauf hinarbeiten, das Assad-Regime in die Arabische Liga zu reintegrieren und ihre diplomatischen Beziehungen zu Syrien zu normalisieren. Diese strategische Neuausrichtung der Golfstaaten spiegelt eine Priorisierung geopolitischer Stabilität in der Region wider und hat zur Isolation von HTS innerhalb der arabischen Welt beigetragen.
Welches Ziel verfolgt die Rebellenallianz?
Das Hauptziel der Rebellen ist es, das Assad-Regime zu stürzen und die Kontrolle über Syrien zu übernehmen. HTS hat sich von der globalen dschihadistischen Agenda distanziert und konzentriert sich auf eine syrische Lösung. Sie streben an, eine Regierung zu etablieren, die ihre Ideologie widerspiegelt, und haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten bereits quasi-staatliche Strukturen aufgebaut.
Welche Interessen hat Russland, Assad zu unterstützen?
Russland sieht Syrien als wichtigen geopolitischen Verbündeten im Nahen Osten. Der Zugang zu Militärbasen in Syrien, insbesondere dem Marinestützpunkt Tartus, ist für Russland von grosser Bedeutung. Zudem nutzt Russland den Konflikt, um seine militärische Präsenz und seinen Einfluss in der Region zu stärken.
Und der Iran?
Der Iran unterstützt das Assad-Regime, um seinen strategischen Einfluss im Nahen Osten zu sichern und eine Landverbindung zu seinen Verbündeten im Libanon, insbesondere zur Hisbollah, aufrechtzuerhalten. Syrien dient dabei als entscheidender Korridor für den Transport von Waffen und logistischer Unterstützung an die Hisbollah. Diese enge Beziehung hat historische Wurzeln, die bis zur Gründung der Islamischen Republik Iran zurückreichen, als Syrien das einzige arabische Land war, das den Iran während des Iran-Irak-Krieges öffentlich unterstützte.
Wie gefährlich ist die aktuelle Lage für Syrien und den ganzen Nahen Osten?
Die aktuelle Lage in Syrien ist äusserst gefährlich und hat das Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren. Die jüngsten Erfolge der Rebellen und die darauf folgenden Gegenangriffe des Assad-Regimes und seiner Verbündeten haben zu einer erneuten Eskalation der Gewalt geführt, wodurch sich die humanitäre Krise in Syrien stark verschärft. Diese Instabilität bietet terroristischen Gruppen wie dem IS und Al-Qaida weiterhin einen Nährboden, was die Sicherheit in der gesamten Region bedroht. Die Situation bleibt volatil und erfordert internationale Aufmerksamkeit sowie Bemühungen zur Deeskalation und humanitäre Unterstützung.
Wer denkt, der Feind meines Feindes ist mein Freund, muss sich nicht wundern, dass die Region ein Pulverfass ist. Und Staaten, die nach diesem Prinzip handeln, sind dafür verantwortlich, dass die Region eines ist.
Geopolitik ist tricky, doch grundsätzlich ist das kleinere Übel immer die bessere Wahl. In Syrien also definitiv Assad. Wer das nicht glaubt , soll sich einfach vorstellen, er wäre eine Jesidin, deren Dorf gerade von Dchihadisten überrannt wurde.