International
Türkei

Das grosse Rätsel um die mutmassliche Attentäterin von Istanbul

Mutmassliche Istanbul-Attentäterin: Darum ist Ankaras Darstellung nicht schlüssig

Die Türkei schiebt die Schuld für den Istanbuler Anschlag militanten Kurden zu – und dem Westen. Die Polizei hat eine Tatverdächtige festgenommen. Die Erklärung Ankaras wirkt nicht völlig schlüssig.
15.11.2022, 02:3715.11.2022, 02:45
Susanne Güsten, Istanbul / ch media
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Ahlam Albashir heisst die Frau, die nach dem Anschlag von Istanbul viele Rätsel aufgibt. Die türkische Anti-Terror-Polizei nahm Albashir in der Nacht zum Montag in einem Vorort der Metropole fest: Sie soll die Bombe gelegt haben, die am Sonntag auf dem Istiklal-Boulevard im Stadtzentrum mindestens sechs Menschen tötete, darunter ein neunjähriges Kind.

epaselect epa10305026 People lay flowers at the area of a deadly explosion the previous day on Istiklal Street in Istanbul, Turkey, 14 November 2022. According to Interior Minister Suleyman Soylu, at  ...
Trauer nach dem Anschlag von Istanbul: Mindestens sechs Menschen starben in der türkischen Metropole, 80 weitere wurden verletzt.Bild: keystone

Die Syrerin Albashir sei Mitglied der syrischen Kurdenmiliz YPG, einem Ableger der Arbeiterpartei PKK, sagt die türkische Regierung. Innenminister Süleyman Soylu macht die USA für die Gewalttat mitverantwortlich, weil Amerika in Syrien mit der YPG kooperiert. Doch Soylus Version wirft Fragen auf. Kritiker der türkischen Regierung vermuten, dass Ankara mit den Schuldzuweisungen politische Ziele im Dauerstreit mit dem Westen verfolgt.

Die Istanbuler Polizei erklärte nach einer ersten Vernehmung von Albashir, die mutmassliche Täterin habe sich selbst als Mitglied einer Geheimdienst-Einheit der YPG bezeichnet. Sie sei nach eigenen Angaben über die von der Türkei besetzte syrische Stadt Afrin und die syrische Rebellenprovinz Idlib illegal in die Türkei eingereist, um den Anschlag zu verüben.

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Die türkische Polizei hat dieses Foto herausgegeben – es zeigt die Verhaftung der mutmasslichen Attentäterin Ahlam Albashir.Bild: keystone

Innenminister Soylu sagte, der Befehl für den Anschlag sei aus der nordsyrischen Stadt Kobani gekommen, die von der YPG kontrolliert wird. PKK und YPG erklärten, sie hätten nichts mit dem Anschlag zu tun.

Vorwürfe an die USA und Europa

Soylu, der führende nationalistische Hardliner im türkischen Kabinett, verband seine Stellungnahmen zu dem Anschlag mit Vorwürfen an die USA und Europa. Amerika wirke mit seinen Beileidbekundungen nach der Gewalttat wie «ein Mörder, der als einer der Ersten am Tatort auftaucht», sagte der Minister. Die Beileidserklärung der US-Botschaft in Ankara weise er zurück.

Auch Europa geriet ins Visier türkischer Regierungspolitiker. Erdogans Kommunikationschef Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, Terroranschläge in der Türkei seien «direkte und indirekte Konsequenzen der Unterstützung einiger Länder für Terrorguppen». Ankara wirft dem Nato-Beitrittskandidaten Schweden sowie Deutschland und anderen europäischen Ländern vor, die PKK und die YPG zu unterstützen.

epa10304300 Turkish Minister of Interior Suleyman Soylu (C) speaks during the opening ceremony of a new housing project established by Turkey in Idlib, Syria, 13 November 2022. Turkish Minister of Int ...
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu.Bild: keystone

Die türkische Armee hält mehrere Gebiete im Norden Syriens besetzt, um die YPG aus dem Grenzgebiet zurückzudrängen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Mai mit einer neuen Intervention gedroht. Der Anschlag von Istanbul werde nun möglicherweise zur Rechtfertigung des neuen Angriffs herangezogen, schrieb der amerikanische Nahost-Experte Seth Frantzman auf Twitter. Er bezweifelte die Richtigkeit der gesamten Darstellung des Vorfalls:

Die Darstellung der türkischen Regierung ist tatsächlich nicht völlig schlüssig. So hat die YPG bisher noch nie Anschläge in Istanbul verübt – das Hauptinteresse der syrischen Kurdenmiliz ist es, eine neue türkische Intervention in ihrem Gebiet in Syrien zu vermeiden. Ein Bombenanschlag in Istanbul würde diesem Interesse widersprechen. Auch die PKK, die durch Offensiven der türkischen Armee geschwächt ist, hat seit Jahren keinen Anschlag in Istanbul mehr verübt.

Relatives and friends of Arzu Ozsoy and her 15-year-old daughter Yagmur Ucar, who died in Sunday's explosion occurred on Istiklal avenue, attend their funeral in Istanbul, Turkey, Monday, Nov. 14 ...
Die türkische Regierung gibt der YPG die Schuld am Tod der sechs Menschen. Die Bild: keystone

Frantzman schrieb, er finde es verdächtig, dass alle Teile der Ermittlungen «wie ein Uhrwerk» zusammenpassten und dass die türkischen Behörden den Fall innerhalb weniger Stunden für gelöst erklärt hätten. (aargauerzeitung.ch)

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32 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Martin Baumgartner
15.11.2022 04:43registriert Juni 2022
Bald sind in der Türkei Präsidentschaftswahlen. Wie gut für Präsident Erdogan, dass nur Stunden nach dem Anschlag die Täterin gefasst und der PKK die Verantwortung zugewiesen wurde. Durch die eingeschränkte Pressefreiheit kommen andere Theorien gar nicht erst in Frage.
Das lenkt etwas von der anhaltenden Wirtschaftskrise und der hohen Inflation ab.
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Callao
15.11.2022 06:23registriert April 2020
Das Ganze wirkt orchestriert. Alleine schon, dass nicht mal 24 Stunden nach dem Anschlag über 40 Verhaftungen vorgenommen wurden, löste in mir Misstrauen aus.
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Roger Mitg
15.11.2022 07:46registriert November 2021
Die türkischen Polizeibehörden sind so fix, den Anschlag ruckzuck bis ins kleinste Detail aufzuklären, waren aber ausserstande, ihn im Vorfeld zu verhindern...
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