Ahlam Albashir heisst die Frau, die nach dem Anschlag von Istanbul viele Rätsel aufgibt. Die türkische Anti-Terror-Polizei nahm Albashir in der Nacht zum Montag in einem Vorort der Metropole fest: Sie soll die Bombe gelegt haben, die am Sonntag auf dem Istiklal-Boulevard im Stadtzentrum mindestens sechs Menschen tötete, darunter ein neunjähriges Kind.
Die Syrerin Albashir sei Mitglied der syrischen Kurdenmiliz YPG, einem Ableger der Arbeiterpartei PKK, sagt die türkische Regierung. Innenminister Süleyman Soylu macht die USA für die Gewalttat mitverantwortlich, weil Amerika in Syrien mit der YPG kooperiert. Doch Soylus Version wirft Fragen auf. Kritiker der türkischen Regierung vermuten, dass Ankara mit den Schuldzuweisungen politische Ziele im Dauerstreit mit dem Westen verfolgt.
Die Istanbuler Polizei erklärte nach einer ersten Vernehmung von Albashir, die mutmassliche Täterin habe sich selbst als Mitglied einer Geheimdienst-Einheit der YPG bezeichnet. Sie sei nach eigenen Angaben über die von der Türkei besetzte syrische Stadt Afrin und die syrische Rebellenprovinz Idlib illegal in die Türkei eingereist, um den Anschlag zu verüben.
Innenminister Soylu sagte, der Befehl für den Anschlag sei aus der nordsyrischen Stadt Kobani gekommen, die von der YPG kontrolliert wird. PKK und YPG erklärten, sie hätten nichts mit dem Anschlag zu tun.
Soylu, der führende nationalistische Hardliner im türkischen Kabinett, verband seine Stellungnahmen zu dem Anschlag mit Vorwürfen an die USA und Europa. Amerika wirke mit seinen Beileidbekundungen nach der Gewalttat wie «ein Mörder, der als einer der Ersten am Tatort auftaucht», sagte der Minister. Die Beileidserklärung der US-Botschaft in Ankara weise er zurück.
Auch Europa geriet ins Visier türkischer Regierungspolitiker. Erdogans Kommunikationschef Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, Terroranschläge in der Türkei seien «direkte und indirekte Konsequenzen der Unterstützung einiger Länder für Terrorguppen». Ankara wirft dem Nato-Beitrittskandidaten Schweden sowie Deutschland und anderen europäischen Ländern vor, die PKK und die YPG zu unterstützen.
Die türkische Armee hält mehrere Gebiete im Norden Syriens besetzt, um die YPG aus dem Grenzgebiet zurückzudrängen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Mai mit einer neuen Intervention gedroht. Der Anschlag von Istanbul werde nun möglicherweise zur Rechtfertigung des neuen Angriffs herangezogen, schrieb der amerikanische Nahost-Experte Seth Frantzman auf Twitter. Er bezweifelte die Richtigkeit der gesamten Darstellung des Vorfalls:
If you ever want to see a marvel of a media-government machine it's worth following Turkish media...how it goes from "we don't know much about this explosion" to "here we have all the details of this well trained terrorist who looks not well trained at all and was found quickly."
— Seth Frantzman (@sfrantzman) November 14, 2022
Die Darstellung der türkischen Regierung ist tatsächlich nicht völlig schlüssig. So hat die YPG bisher noch nie Anschläge in Istanbul verübt – das Hauptinteresse der syrischen Kurdenmiliz ist es, eine neue türkische Intervention in ihrem Gebiet in Syrien zu vermeiden. Ein Bombenanschlag in Istanbul würde diesem Interesse widersprechen. Auch die PKK, die durch Offensiven der türkischen Armee geschwächt ist, hat seit Jahren keinen Anschlag in Istanbul mehr verübt.
Frantzman schrieb, er finde es verdächtig, dass alle Teile der Ermittlungen «wie ein Uhrwerk» zusammenpassten und dass die türkischen Behörden den Fall innerhalb weniger Stunden für gelöst erklärt hätten. (aargauerzeitung.ch)
Das lenkt etwas von der anhaltenden Wirtschaftskrise und der hohen Inflation ab.