Politisches Erdbeben in der Türkei. Die Justiz liess am Mittwoch Ekrem Imamoglu, den wohl wichtigsten Rivalen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, verhaften.
Ein Überblick:
Ekrem Imamoglu ist Bürgermeister von Istanbul, der grössten Stadt der Türkei. Er ist ausserdem einer der wichtigsten Kontrahenten von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Imamoglu gehört zur CHP, der säkularen und seit Jahrzehnten sozialdemokratischen Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Die Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei), wie die Partei mit vollem Namen heisst, wollte Imamoglu am Sonntag offiziell zu ihrem Kandidaten für die nächste reguläre Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 ernennen.
Imamoglu wird unter anderem die Führung einer kriminellen Organisation und Korruption vorgeworfen, wie aus dem Haftbefehl der Staatsanwaltschaft hervorgeht, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Neben ihm wird demnach gegen 99 weitere Beschuldigte ermittelt.
Es stehen jedoch auch Terrorvorwürfe im Raum. Dem Oppositionspolitiker werde Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen, schrieb die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Hintergrund sei eine Kooperation zwischen seiner sozialdemokratischen CHP und der prokurdischen Partei DEM bei den Kommunalwahlen. Dabei hatten beide Parteien zusammengearbeitet, um in Gemeinden die Mehrheit zu gewinnen. Die türkische Regierung sieht die DEM als politischen Arm der PKK. Die Partei streitet das vehement ab.
In der Türkei wurden schon oft Bürgermeister, gegen die Terrorermittlungen laufen, durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt.
CHP-Chef Özgür Özel sprach von einem Putschversuch und einem entscheidenden Moment für die Zukunft der türkischen Demokratie. Das Volk solle daran gehindert werden, den nächsten Präsidenten selbst zu bestimmen. Er rief die 1,7 Millionen Partei-Mitglieder dazu auf, trotz der Verhaftung am Sonntag an der parteiinternen Wahl des CHP-Spitzenkandidaten teilzunehmen.
Es handle sich um einen versuchten Staatsstreich. Die Türkei erlebe gerade «einen Putschversuch gegen den nächsten potenziellen Präsidenten», sagte der Chef der Oppositionspartei CHP im Fernsehen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan wisse, dass Imamoglu ihn bei den nächsten Wahlen besiegen könne. Özel forderte Erdogan und seine Partei auf, seine Rolle in dem versuchten Staatsstreich offenzulegen.
Sein Anwalt Kemal Polat hatte der Deutschen Presse-Agentur vor Bekanntwerden des Haftbefehls gesagt, Imamoglu könne erst als Präsidentschaftskandidat antreten, wenn alle Rechtswege gegen die Entscheidung ausgeschöpft seien. Der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, sprach von einer politischen Entscheidung.
Die CHP ruft zu landesweiten Protesten auf. Menschen sollten um 12 Uhr MEZ (Ortszeit 14 Uhr) vor Einrichtungen der sozialdemokratischen CHP im ganzen Land zusammenkommen, teilte die Partei mit. Für Istanbul gelte das nicht, sagte der CHP-Politiker Özgür Celik. Das Gouverneursamt hatte zuvor ein mehrtägiges Demonstrationsverbot für die Metropole verhängt.
Imamoglu veröffentlichte am Morgen auf der Plattform X ein Video, in dem er davon sprach, dass Hunderte Polizisten vor seiner Haustür stünden. «Wir befinden uns im Angesicht einer grossen Tyrannei», schrieb er dazu. Er werde aber nicht aufgeben. Mehrere Fernsehsender berichteten, die Polizei habe sich Zutritt zu Imamoglus Anwesen verschafft und das Gebäude durchsucht.
Millet iradesine darbe vuruluyor. pic.twitter.com/waXHu23ZVN
— Ekrem İmamoğlu (@ekrem_imamoglu) March 19, 2025
Die türkische Botschaft in Bern machte watson auf ein Statement des türkischen Justizministers aufmerksam:
Das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul verhängte eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag.
Nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters sind laut Berichten mehrere soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste nur eingeschränkt nutzbar.
Viele Türken beschrieben Drosselungen und Beschränkungen unter anderem auf X, YouTube, Instagram, TikTok, WhatsApp, Signal, Telegram und weiteren Diensten.
Weiter sind in der Millionenmetropole mehrere Strassen gesperrt worden.
Vier Tage lang bleiben laut dem Gouverneursamt in der Innenstadt ausgewählte Strassen gesperrt, zudem werden mehrere Bahnstationen geschlossen. Auch seien alle Arten von Versammlungen und Demonstrationen bis zum 23. März verboten, «um die öffentliche Ordnung in der gesamten Provinz aufrechtzuerhalten und mögliche Provokationen zu verhindern».
Die Festnahmen erschütterten auch die Finanzmärkte. Die Landeswährung Lira sackte zum US-Dollar auf ein Rekordtief ab, der Aktienmarkt brach ein und am Anleihenmarkt zogen die Renditen deutlich an.
Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen Imamoglu hatte sich schon vorher angekündigt. Am Dienstag war bekanntgeworden, dass die Istanbul-Universität ihm den Hochschulabschluss aberkannt hat. Dieser ist Voraussetzung zur Kandidatur für das Präsidentenamt. Hintergrund der Annullierung soll ein angeblich unrechtmässiger Universitätswechsel sein. Imamoglu erklärte, er wolle gegen die Entscheidung vor Gericht ziehen, habe aber das Vertrauen in faire Urteile verloren. Ihm drohen in einer Reihe weiterer Verfahren, Haftstrafen und Politikverbote.
Mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa